Die Unsichtbaren

Zum ersten Mal hörte ich von den Janima und ihrer Heimat Janifee, auch Seisjanisnova genannt, im August diesen Jahres. Am frühen Vormittag, es war schon zu heiß zum Ausgehen, wurde eine außerordentliche Sitzung anberaumt – und ich hatte Dienst. Missmutig und schwitzend machte ich mich auf den Weg. Natürlich schwitzte Marlen kein bisschen. Sie war munter und eifrig wie immer und ging allen auf die Nerven. Der soundsovielte Korruptionsskandal in dieser Regierungsperiode war aufgedeckt worden, wer gegen wen, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wohl aber erinnerte ich mich, im Vorübergehen etwas aufgeschnappt zu haben, was mir keine Ruhe mehr ließ. Ich kann es nicht leiden, wenn mir irgendwelcher Unfug im Kopf herumspukt – wie ein Ohrwurm, nur ohne Musik. Schon in der drauffolgenden Woche begann ich mit der Recherche. Das hatte zunächst weniger mit dem Drang zu tun, mehr über die geheimnisvollen Janima von Seisjanisnova zu erfahren. Es war ganz banal: Die Bibliothek hatte die bessere Klimaanlage als meine Wohnung. Ich verbrachte mehrere Nachmittag dort, erfuhr jedoch gar nichts.

Wie so oft, war es der Zufall, ich trank gerade mit Fred einen Eistee, der die entscheidende Wende brachte. Der junge Mann war genial, einer der besten Archivare des mitteleuropäischen Wendekreises, aber er war ein Tollpatsch wie er im Buche steht. Natürlich stolperte er beim Aufstehen mit dem leeren Glas in der Hand und krachte rücklings gegen einen Behälter. Normalerweise stand in der Bibliothek nichts auf dem Boden, ganz und gar nicht, hier herrschte stets vorbildliche Ordnung. Fred war mehr erzürnt darüber, dass er als Bibliotheksvorsteher nicht über das Behältnis informiert war, als dass er sich über sein schmerzendes Hinterteil grämte.
Der Behälter hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit denjenigen, die das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten zur Aufbewahrung besonders auswärtiger Angelegenheiten benutzte. Fred stellte schnell fest, dass die Box leer war und informierte unverzüglich den Reinigungsdienst. Froh darüber, dass ich an seiner Stelle warten würde, spurtete er los. Er hatte eine Verabredung mit einer gewissen Silvana; ich hatte einiges über sie erfahren in der letzten halben Stunde und ich verstand seine Eile.
Normalerweise waren die Boxen des Ministeriums aus nahezu unzerstörbarer aldanischer Keramik. Dass diese hier zerbrochen war, sprach eher dafür, keine des Ministeriums zu sein, oder vielleicht ein sehr altes Stück, immerhin hatte sie jemand in der Historischen Bibliothek abgestellt. Neugierig kniete ich mich daneben und hob vorsichtig ein größeres Scherbenstück hoch. Gut möglich, dass mir ein Ausruf des Schreckens entwich, denn dort lag etwas: ein Buch und ein Datenträger. Mit etwas Glück könnte ich das Buch auf dem Schwarzmarkt für einen grandiosen Preis verkaufen. Der Datenträger war ein Wunderwerk domoranischer Technologie, was ich erkannte, weil ich über Datenträger promoviert hatte. Diese Art Datenträger waren sehr teuer und nicht einfach zu erwerben und ich fragte mich, wem er wohl gehören mochte. Also tat ich das Naheliegendste und versenkte die beiden Dinge in meiner Umhängetasche. Sicherheitshalber hob ich noch andere Scherben an, doch da war nichts mehr.
Ich wartete bis der Reinigungsroboter seine Arbeit erledigt hatte, dann löschte ich den Protokolleintrag des Roboters. Die Kontrolle der Protokolleinträge auf Unregelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten war den Eingangssemestern überlassen, die noch nicht gelernt hatten, sich stumpfsinniger Arbeiten zu erwehren. Weil ich aber ungern etwas der Dummheit von Eingangssemestern überlasse, erschien es mir sicherer, den Eintrag zu löschen und meinen Datenabdruck gründlich zu verwischen. Denn natürlich war mir klar, dass ich diese Dinge nicht hätte an mich nehmen dürfen. Aber es ging nicht anders, es war, als hätten sie auf mich gewartet. Aber das hätte ich natürlich niemals so ausgedrückt, zumindest damals nicht, heute schon eher. Erfreut über diesen unerwarteten Fund verließ ich die Bibliothek und machte mich ebenfalls auf den Weg in den Feierabend.

Erst kurz nach Mitternacht, ich hatte den Abend in Gesellschaft am Strand verbracht, offenbarte sich die Wichtigkeit meines Fundes. Das Buch stellte sich nach kurzer Recherche als eine antike Geschichtensammlung heraus und trug den Titel „Der Hürnene Seyfrid“, wertvoll nur für Historiker, aber ohne finanziellen Wert. Ich hätte es wohl besser in der Bibliothek gelassen und nahm mir vor, es beim nächsten Besuch unauffällig in eines der Regale zu stellen.
Der Datenträger, ein sehr schönes Stück domoranischer Technologie, war ungleich faszinierender, und gut zu verkaufen, sollte ich mich dazu entscheiden. Der Inhalt überraschte mich jedoch sehr.
Es gab unter anderem einen Bericht einer gewissen Irín Baldrop, der über den Einfluss eines gewissen DaRoc Janibarasinn von Seisjanisnova auf die Entwicklung der Domorai handelte. Das verblüffte mich auf dramatische Weise. Er hatte, so ihr Fazit, die technologische und gesellschaftliche Entwicklung beschleunigt und sie über Jahre maßgeblich in seinem Sinne beeinflusst. Er hatte den Niedergang des alten Imperiums herbeigeführt und den Aufbau eines neuen Gemeinwesens detailliert geplant und ausgeführt. Dass so etwas möglich sein konnte, schien ausgeschlossen, doch Irin Baldrop war sich sicher. Sie hatte zufällig seine Steuerprotokolle entdeckt und ausgewertet. Für die Domorai war sein Wirken wohl alles andere als nachteilig gewesen, er hatte ihnen keinesfalls damit geschadet. Die Entwicklung dieser Art von Datenträger zum Beispiel wäre ohne ihn nicht möglich gewesen. Aber er hatte das alles nicht in die Wege geleitet, um den Domorai zu helfen ein zivilisiertes Leben zu führen. Alles was er tat diente nur seinem eigenen Interesse, diente dazu, nicht von seinen Geschwistern gefunden zu werden, die er für bösartig hielt und vor denen er sich extrem fürchtete. Er wusste, dass sie nichts anderes im Sinn hatten, als ihm einen ganz bestimmten Stein wegzunehmen. Gleichzeitig schickte er jedoch die Domorai auf eine Mission, auf eine Suche, nach ebensolchen Steinen. Irin Baldrop war zurecht empört über die Art, wie er die Domorai benutzt hatte. Den Stein selbst beschrieb sie jedoch nicht genauer, gerade so, als wolle sie seine Existenz verdecken, und erging sich am Ende in vagen Andeutungen darüber, dass sie diesen Stein zum Wohle aller aus der Welt geschafft hätte.

Wie erwachend sah ich um mich, als der Wecker klingelte. Ich konnte nicht zu Arbeit, ich hatte noch nicht geschlafen und nahm ich mir frei, um mich weiterhin dem Datenträger widmen zu können. Es handelte sich um teils wirre Aufzeichnungen, teils um Fragmente unterschiedlichster Art. Erschwert wurde das ganze durch eine enorme Übersetzungsleistung, die ich gleichzeitig vollbringen musste. Aber ich war wie gebannt.

Ich hätte diesen Bericht als hypothetischen Roman abgetan, wenn ich nicht, wie eingangs erwähnt, im Vorübergehen etwas aufgeschnappt hätte. Der einzige Beweis, dass die Janima von Seisjanisonva existieren, war also ein außerirdischer Datenträger, den ich zufällig in einer Bibliothek in einem zerbrochen Behältnis, das nicht an dieser Stelle hätte sein dürfen, gefunden hatte.
Aber weitaus seltsamer waren jedoch die Dinge, die ich über diese Wesen erfuhr. Warum Irin Baldrop all dies wusste, lässt sich nur mutmaßen, möglicherweise konnte sie all dies aus den Steuerprotrokollen des DaRoc extrahieren, oder sie hat später andere dieser Art getroffen. Den ominösen DaRoc konnte sie nicht befragen, denn der war schon vor ihrer Zeit verschwunden. Ich vermute, dass er ihr auch gar nichts erzählt hätte, denn Leute, die so massiv in die in die Geschicke anderer eingreifen, erzählen nie etwas, allenfalls gefällige Lügen.

Vermutlich gibt es kein vernunftbegabtes Wesen, das sich vorzustellen vermag, dass die Janima tatsächlich existieren. Einst Abkömmlinge der Menschheit, streiften sie eines Tages diese Menschlichkeit ab wie Schlangen ihre alte Haut. Seit jenem Tag schlüpfen sie aus purpurfarbenen Schneckenhäusern, wenn es Zeit ist, geboren zu werden, immer sechs an der Zahl. Seit jener Zeit besteht eine symbiotische Verbindung mit blauseidenen Wesen unbekannter Herkunft, die kurz vor dem Schlüpfen ihren Anfang nimmt. Diese unbekannten Wesen werden Seischinn genannt. Dank dieser blauseidenen Verbindung verfügen sie über fantastisch anmutende Fähigkeiten in kaum vorstellbarer Fülle. So reisen sie zum Beispiel durch Raum und Zeit als wäre es nichts anderes als ein Spaziergang ins Nachbardorf. Sie wechseln ihre Gestalt wie unsereiner die Unterwäsche und bei alledem und vielem mehr, sind sie außergewöhnlich klug. Das wird auch der Grund dafür sein, dass man sie nie erkennt, gesetzt den Fall, man würde ihnen zufällig begegnen. Wenn sie ihre Sturm- und Drangzeit hinter sich haben, beschäftigen sie sich im Wesentlichen damit, Wissen zusammenzutragen und zu horten.
Eines haben sie mit der Menschheit jedoch immer noch gemeinsam: sie sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist. Im Großen und Ganzen wird dies hingenommen, von ihnen wie auch von uns. Obwohl zuweilen, egal wie lange so ein Leben am Ende gedauert hat, es oft als für zu kurz bemessen scheint. Die Lebenszeit der Janima von Seisjanisnova ist unvorstellbar lang, gemessen an unserer. Ihre äußere Erscheinung gleicht oft der von Engeln, denn sie mögen Flügel. Aber wie schon erwähnt, sind sie nicht an eine feste Gestalt gebunden. Ihr Organismus ist extrem robust, weswegen sie sind gefeit vor Krankheiten jedweder Art. Doch dumme Zufälle oder Unachtsamkeit können zu schwerwiegenden Verletzungen führen, die nicht immer geheilt werden können. So besteht also auch im Leben eines Janima ein gewisses Risiko, vor der Zeit zu sterben. So tragisch das im Einzelfall auch sein mag, so gelassen wird es hingenommen, denn im Großen und Ganzen handelt es um ein sehr geringes individuelles Risiko.

Vermutlich war es Zufall, der einst sechs Janima (der oben erwähnte DaRoc war einer von ihnen) und das Buch zusammenführte. Die Geschichte von Seyfrid und dessen Bad in Drachenblut hatte sie wohl auf die Idee gebracht, dass das genau das war, was ihnen zu ihrem Glück noch fehlte. Also begaben sie sich auf Drachenjagd. Ob sie am Ende tatsächlich in Drachenblut badeten und auf diese Weise die Unverletzlichkeit erlangten, darüber berichtet Irin Baldrop nichts. Ich vermute, dass es nichts geworden ist, mit der Unverletzlichkeit. Dass ein Bad in Drachenblut unverletzlich macht, war schon zu Seyfrids Zeiten nichts weiter als ein Märchen. Historisch verbürgt ist nur, dass Seyfrid und seine Genossen sich am Ende in einem blutigen Gemetzel gegenseitig erschlugen.

Elisabeth von Mangold-Dürrenschnabel die Zwölfte
für AMAGIBA-Projects im September des Jahres 2559

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