Schwanengesang

Ein Held weiß, dass die Dinge geschehen, wenn es Zeit ist, dass sie geschehen

„Hey Jungs, kommt her, beeilt euch, ihr werdet nicht glauben, was ich gefunden habe!“ So oder ähnlich hätte es sich angehört, wenn DaiRa in einer verständlichen Sprache gesprochen hätte. Dass sie es nicht tat lag daran, dass sie mit dem Schnabel schnatterte. Sie war ein Schwan durch und durch. Regenbogenfarben war das Gefieder und jadegrün Schnabel und Füße. Sie plusterte sich mächtig auf und reckte die Flügel in die Höhe. Auf ihren Ruf hin änderten fünf andere Schwäne ihre Flugbahn und landeten mit gewaltigem Rauschen neben ihr. Sie reckten die Hälse und trugen ein ebenso buntes Gefieder wie die Schwester. Das war wichtig auf Ledas Welt, auch bekannt als Sirius XII, denn bunte Federn waren das einzige, was das Leben auf diesem bleigrauen Planeten erträglich machte.
Es war ein Wunder, dass DaiRa die Insel überhaupt entdeckt hatte, denn das Wasser schimmerte ebenso bleigrau wie der feine Inselsand. Ein springender Fisch, so erzählte DaiRa ihren Brüdern, der plötzlich einen Haken schlug, hatte ihre Aufmerksamkeit auf diese Stelle inmitten der Weite des Ozeans gelenkt. Doch nicht die Insel selbst war es, die sie ihren Brüdern zeigen wollte. Noch bevor sie mit ihrer Entdeckung prahlen konnte, entdeckten die anderen ebenfalls das winzige blaue Funkeln im Sand. Für einen Janíma war es nicht zu übersehen, sondern jederzeit und überall erkennbar. Es war ganz eindeutig die winzige Spitze einer versteinerten blauen Flamme. Es war ein Jablicor, der wertvollste Besitz eines Janíma. Letztendlich war es der einzige persönliche Besitz, den ein Janíma besaß. Zischelnd reckten sie die Hälse. Was ist mit dem Janíma geschehen, dem dieser Stein gehört hatte Hals, fragten sie sich, denn kein Janíma legte seinen Stein aus der Hand solange er lebte.

„Halt“ rief DaRoc. Er war der Vernünftigste der kleinen Schar und auch der Klügste. „Kannst du nicht mal einen Augenblick nachdenken, bevor du zuschnappst?“ DaRav zischte wütend, doch er gehorchte, denn natürlich hatte sein Bruder Recht. Es konnte alles sein, angefangen von einer hinterhältigen Falle bis hin zum größten Schatz. Was auch immer es war, zuerst jedoch musste sichergestellt werden, dass kein Bibliothekar auf ihre Entdeckung aufmerksam wurde.
Sie hätten ruhig zuschauen sollen, wie DaRoc seine Arbeit tat, aber sie konnten es nicht, sondern schlugen unablässig mit den Flügeln und klapperten mit den Schnäbeln. DaRoc ließ sich davon nicht beirren. Unter seinen Flügeln wuchsen nun Arme hervor mit Händen daran und Fingern. Mit einer Hand schüttelte er das Medaillon an seinem Hals, bis eine ovale Scheibe herausflutschte, die er mit der anderen Hand auffing. Spätestens jetzt wurde offenbar, dass diese sechs Schwäne nicht sein konnten, was sie vorgaben zu sein.
In Wirklichkeit handelte es sich um eine Gruppe junger und sehr begabter Janíma, die als JaníBaraSin zum Leben erwacht waren. Voller Neugierde durchstreifen sie die diesseits und jenseits der Straße von Vornos, immer auf der Suche nach Abwechslung und Abenteuer. Das war die Art der Janíma in jungen Jahren. Mit der Zeit wurden sie ruhiger, wurden sesshafter und wurden am Ende zu Bibliothekaren, die über das gesammelte Wissen wachten. Die einen in allgemein zugänglichen Bibliotheken, die anderen in versteckten, privaten Bibliotheken. Und sie waren sich sicher, dass sie eine dieser privaten Bibliotheken entdeckt hatten.
DaRoc rieb mit den Fingern sachte über die schimmernde Oberfläche der Spiegelplatte, und ließ schließlich die ganze Hand darin versinken. Dann zog er die Hand langsam wieder zurück. Wie Spinnenfäden folgte der Inhalt der Spiegelscheibe seinen Fingern und verteilte sich kugelförmig um die kleine Insel herum. Der ovale Spiegel war das Glanzstück domoranischer Technologie und funktionierte hervorragend, ohne auch nur eine Spur von Magie zu benötigen. Mithilfe des Spiegels installierte DaRoc einen mehrdimensionalen Schutzschild mit dem Ergebnis, dass sie nicht mehr da war, ohne dass auch nur irgendetwas darauf hindeutete, dass da etwas sein sollte oder etwas fehlte. Der Schild schützte sie nicht nur vor gefährlichen Attacken zwielichtiger Lebensformen, viel wichtiger noch war der Schutz vor den Bibliothekaren, deren Lebenszweck es war, alle Entdeckungen zu klassifizieren, zu katalogisieren und die interessantesten Dinge wegzusperren.


DaiRas Schnabel schnellte vor. Mit einem leisen „plopp“ flutschte die Steinflamme aus dem Boden. Sand rieselte in die kleine Vertiefung, die zurückgeblieben war. Der Sand rieselte immer schneller, die Öffnung wurde immer größer und schon einen Augenblick später waren die sechs Schwäne zusammen dem Sand verschwunden. Das Innen wölbte sich nach Außen, das Außen kippte nach hinten weg, schlug Saltos, bis das Chaos sich schließlich vom Mittelpunkt aus beruhigte. Mit zerzaustem Gefieder, aber munter und fidel, fanden sich die JaníBaraSin im Inneren eines Awatiums wieder.

„Glückwunsch“ sagte DaRoc, nicht wirklich überrascht, denn er hatte schon vor einer ganzen Weile ausgerechnet, dass sich auf Ledas Welt ein Awatium befinden musste. Es ärgerte ihn nicht wenig, dass es ausgerechnet von seiner Schwester gefunden worden war. Doch für Ärger war keine Zeit, der Schild würde nicht ewig halten, zumal das Erscheinen eines Awatiums Wellen schlug, die auch der beste Schutzschild nicht abfangen konnte. Der Großbibliothekar würde sicher bald die Wellen registrieren und seine Boten aussenden. Das war den JaníBaraSin wohl bekannt, und so begannen sie das Awatium zu erforschen, kaum dass die Zeit zum Stillstand gekommen war. Sie machten sich nicht die Mühe, eine andere Gestalt anzunehmen, sondern blieben, was sie waren, denn es machte keinen Unterschied. Einzig Greifhände und -arme trieben unter den Flügeln hervor um sofort wieder zu verschwinden, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden. Einzig DaRoc beteiligte sich nicht an der Erforschung, sondern beschäftigte sich intensiv mit seiner Silberscheibe, denn er Strömungen gefunden, die darauf hindeuteten, dass das Awatium bestens gegen Eindringlinge gesichert war. Es gelang ihm jedoch, die Effekte stabil zu halten, wie lange jedoch war ungewiss.
„Beeilt euch“, befahl er dennoch, „macht euch bereit, das Awatium auf mein Kommando hin zu verlassen“.
Die anderen maulten und murrten, denn dieses Awatium war schlichtweg überwältigend. Der Janíma, der es einst angelegt hatte, musste sehr weit gereist und sehr lange gelebt haben. Vielleicht war es sogar einer der ersten, die entstanden waren. Die Ablage hatte so gar nichts von der Ordnung, die seit langer Zeit üblich war. Kreuz und quer stapelten sich alle möglichen und unmöglichen Relikte, von denen manche zerfielen, wenn man sie nur ansah.
„Nehmt nichts mit was sich widerspenstig zeigt und auch nichts, was euch bereitwillig in die Hände springt“ ermahnte DaRoc.
"Hey, was ist das? Das ist ja Wahnsinn", rief DaiRa plötzlich in die Stille hinein. "Schaut mal, was ich gefunden habe!" Eine bunt schillernde Kugel schwebte knapp über ihrer Handfläche. "Es muss schon ziemlich alt sein, an manchen Stellen ist es angelaufen."
"Ein Cromal! Gib her!" brüllte DaRav von ganz hinten, drängte sich vor und riss es seiner Schwester aus der Hand. "Gib her, lass sehen, was ist drin!" Wenn er etwas haben wollte, neigte er nicht selten zu Rücksichtslosigkeit.
„Ein ArcoCromal", berichtigte DaRoc mit ruhiger Stimme, "denn es ist im Unterschied zu einem Cromal zusätzlich durch einen Ehrenhaften Jofasz gesichert. Bevor man überhaupt versuchen kann, den Ehrenhaften Jofasz zu schwören, muss es poliert werden. Achtung“ unterbrach er seinen Vortrag „noch 30 Sekunden, nehmt das Ding mit, DaiRa, das Jablicor bereithalten …. und raus!“
DaRoc deaktivierte den Effektstabilisator. Alle sechs flatterten wild mit den Flügeln gegen den Sog von Sand und Zeit. Eine Sandfontäne sprudelte aus dem Nichts hervor und einen Augenblick später hatte die Insel wieder an ihren Platz gefunden. DaiRa steckte die blaue Steinflamme zurück in die kleine Vertiefung im Sand. Ein paar bunte Federn trudelten auf den Boden und dann war es vorbei.
„Die stumpfen Stellen“ fuhr DaRoc fort als wäre nichts geschehen „sind verdichtete Magie. Das passiert leicht bei falscher Lagerung. Wenn das ArcoCromal so geöffnet wird, frisst die Verdichtung Löcher in den Inhalt. Und da wir nicht wissen, was darin enthalten ist, müssen wir es zuvor polieren. Wer weiß, wie das gemacht wird?" fragte er in die Runde. Er schien es im Spaß zu sagen, doch alle wussten, dass er es ernst meinte und tatsächlich auf eine Antwort wartete. Bliebe diese aus, würde er beleidigt.
"Ein ArcoCromal wird poliert, indem es mit Mus aus zerstampftem Bilsenkraut eingerieben wird, das zur Mittagszeit gepflückt wurde. Nachdem das Mus die rechte Zeit einwirkte, wird es im Mondenschein mit reinem Quellwasser abgewaschen und sorgfältig mit feinem Tuch abgetrocknet", rezitierte DaRic beflissen und sonnte sich im Lächeln, das ihm sein schulmeisterlicher Bruder zuwarf. Ist das widerlich, dachte DaRav, die beiden sind manchmal schlimmer als die Pest.
DaiRa nahm das ArcoCromal wieder an sich. Sie drehte und wendete es, während sie es lächelnd betrachtete. Es ist doch immer das Gleiche mit der eitlen Schwester, lästerte DaRav in Gedanken, sie kann einfach nicht bei der Sache sein, wenn es irgendetwas gibt, worin sie sich betrachten kann, sei der Spiegel auch noch so krumm und schief und blind.
"Schön und gut", sagte DaiRa schließlich. "Wir polieren das Ding also vorschriftsmäßig, schwören den Ehrenhaften Jofasz und dann? Ich fürchte, wir haben nur einen Versuch. Es ist ziemlich brüchig."
"Wir werden es schaffen", stellte DaRoc fest. "Es ist kein persönliches ArcoCromal und das Alter wird von Vorteil sein. Die Verflechtungen sind weniger kompliziert als es bei einem neueren der Fall wäre." Er schaute eindringlich in die Runde. "Oder glaubt jemand, dass wir es nicht vollbringen könnten." Darauf musste noch nicht einmal DaRic antworten.
DaRav brummelte ungeduldig vor sich hin. Das dauerte ihm alles viel zu lange. Wo um der Seischinn Willen sollten sie mittagssonnenbeschienenes Bilsenkraut und vollmondbeschienenes Quellwasser hernehmen? Das konnte Ewigkeiten dauern. Um den Ehrenhaften Jofasz machte er sich keine Sorgen. Dieser Schwur war bestimmt schon lange nicht mehr in Kraft. Die Nichteinhaltung irgendwelcher im Schwur verankerter Auflagen würde garantiert keinerlei Folgen haben, bestimmt nicht. DaRoc würde es genau wissen, er wusste immer alles ganz genau, dieser Schlaumeier. Da flimmerte die Luft, DaRic verschwamm für einen Augenblick, verfestigte sich wieder und hielt in der Hand ein Tablett. Zwei Schalen standen darauf: eine gefüllt mit grünem Brei, die andere mit klarem Wasser. Ja, dachte DaRav, noch missmutiger als zuvor, so kann man es natürlich auch machen.
Es dauerte dann so seine Zeit, bis das ArcoCromal rundum blitzblank glänzte. Doch schließlich war auch der letzte Fleck verschwunden und DaRoc endlich zufrieden.
DaRiv und DaRec, die sich bisher abseits hatten, watschelten nun herbei und schlossen den Kreis.
Alle sechs stellten sich in Position bis das ArcoCromal genau zwischen ihnen schwebte. Aufrichtig schworen sie den Ehrenhaften Jofasz und das Siegel verschwand. Die Auflage, das ArcoCromal zur Bibliothek zu bringen, überhörten sie geflissentlich. Sie hatten im Augenblick wahrlich Wichtigeres zu tun. Schon die kleinste Unachtsamkeit beim Auflösen der Verflechtung würde den Inhalt beschädigen oder gar vernichten.
Auf DaRocs Zeichen ließ jeder sein Jablicor auflodern. Ein dünner, blauer Lichtfaden entsprang den Spitzen der versteinerten Flammen. Das Zusammentreffen aller sechs Fäden genau in der Mitte über dem ArcoCromal geschah in vollkommenem Gleichklang und in vollkommener Stille. Lange standen sie so, erstarrt in völliger Konzentration. Die Zeit verging wie gewöhnlich bis sie kurz anhielt. Das war der Augenblick, wo das ArcoCromal zersprang. Was drin gewesen war, blieb in der Luft schwebend zurück in einem Bett bunt schillernder Blütenblätter aus reinem Licht. Die blauen Lichtfäden indes rieselten staubfein hinab und bedeckten den Boden mit glänzendem Flimmer. DaiRa warf sofort eine Handvoll Neutralisierungskristalle darauf. Ein einziges Mal hatten sie nämlich den Fehler begangen, diesen Flimmer unbeachtet zurückzulassen. Kurz darauf mussten sie Rechenschaft ablegen vor den Bibliothekaren. Die waren nämlich ganz gerissen und konnten noch aus dem geringsten Rest dieses Flimmers, den Verursacher ausfindig zu machen.

"Das darf doch wohl nicht wahr sein! Dafür der ganze Aufwand?" DaRav war mehr als nur enttäuscht. Er hatte etwas Grandioses erwartet, etwas das die Janíma allesamt zum Jubeln gebracht hätte. Und dann das! Es war zwar ein uraltes Artefakt, aber interessieren tat sich niemand dafür. Garantiert nicht! Kaum einer konnte lesen. DaRoc allerdings gehörte zu den wenigen, die diesen Zauber beherrschten. Natürlich, wie kann es auch anders sein, dachte DaRav verbittert, da müssen wir ausgerechnet etwas finden, wo sich einzig unser Schlaumeier hervortun kann. Wütend schnellte seine Faust auf dieses blöde Ding vor - und noch im selben wurde DaRav erst weiß im Gesicht, dann grün. Ein Alptraum, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, erwischte ihn eiskalt. Was war das gewesen? fragte er sich verdutzt und sah DaRoc fragend an. Noch ein Siegel, das sie brechen mussten? Oder wurde er jetzt verrückt? Das kam zuweilen vor bei Forschungsreisenden, davon hatte er gehört. DaiRa ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen war und nahm in behutsam in die Arme. Ganz so, wie es eine Mutter tun würde. Sie blies ihm ins Ohr und dann war alles wieder gut – wenn auch noch nicht ganz.
"Hab Dank, liebste Schwester“ schmeichelte DaRav und verbeugte sich tief vor ihr bevor er sich ebenfalls mit einer Verbeugung an DaRoc wandte. „Behalte du es, liebster Bruder, ich möchte es nicht, das ist nichts für wilde Krieger, das ist etwas für einen hohen Gelehrten wie dich, ich bin nur ein Krieger, ich kann euch verteidigen, aber ..." Unvermittelt hörte er auf zu sprechen und starrte DaRoc dumpf an.
„Oh, oh, ehrenwerter DaRav, dich hat es ja ganz schön erwischt“, tröstete ihn DaiRa. DaRav war immer nur so sanft, wenn wirklich etwas gar nicht stimmte. „Doch sei unbesorgt, das wird schon wieder.“ DaRav sah sie nur hilflos an und sagte gar nichts. Man musste ihn auf alle Fälle im Auge behalten bis sicher war, dass er wieder derselbe ruppige Kerl war wie immer.
"Das ist auch gar nicht für dich gedacht, mein Lieber", erwiderte DaRoc gelassen. "Das ist tatsächlich nichts für Leute deines Schlages. Das ist ein Buch, bestehend aus beschrifteten Pergamentblättern, mit Goldstaub fixiert und in Leder gebunden", erklärte DaRoc, als hätte keiner außer ihm Augen im Kopf. Allerdings war er der Einzige, der dem Inhalt entgegenfieberte. "Ich werde es jetzt öffnen!" Er hatte längst begriffen, was mit DaRav passiert war und wob um das Buch einen komplizierten Abwehrzauber. Es half. Kein Alptraum drückte ihn nieder und er wurde auch nicht verrückt. DaRoc hatte trotz all seiner Gelehrsamkeit Tricks auf Lager, denen DaRav rückhaltlos Beifall zollte. Er versuchte sich an einem anerkennenden Kopfnicken in Richtung DaRoc. Es gelang nur mäßig, was aber egal war, denn es achtete keiner auf ihn.

Wie es sich für einen gewissenhaften Gelehrten gehörte, berührte DaRoc die Seiten nur mit feinster Magie. Und dann begann er, seinen Geschwistern vorzulesen. DaRoc beherrschte nämlich nicht nur das Lesen, sondern er wusste auch, wie er andere daran teilhaben lassen konnte. Allerdings war der Inhalt enttäuschend: legendäre Heldensagen aus unzähligen Welten und Zeiten. Ganz nett vielleicht für Historiker, aber in ihren Augen hatten diese Helden wenig getan, um sich die Aufmerksamkeit oder gar Achtung der JaníBaraSin zu verdienen. Doch da DaRoc nicht aufhörte und sie auch nicht aus dem Kreis entließ, blieb ihnen nichts anderes übrig, als mitzulesen. Ihre Ungeduld wurde schließlich in einer Weise belohnt, die sie sich nicht hätten träumen lassen. Sie wären am liebsten sofort aufgebrochen, zappelten herum wie Fische auf dem Trockenen. Umsonst, DaRoc ließ nicht locker, sondern las ungerührt bis zum letzten beschriebenen Blatt. Erst dann sah er auf, sorgenvoll und zerknirscht und da fühlten die anderen es auch. Sie waren allesamt und unbemerkt einem Erweiterten Jaxulan unterworfen worden.
Der Jaxu, wie er im Allgemeinen genannt wurde, war ein Sicherungsgarant mit zwingender Priorität und eines der wenigen Dinge, vor denen selbst die verwegenen JaníBaraSin gehörigen Respekt hatten. Zu seinen Eigenheiten gehörte es, dass Nichtwissen nicht schützte. Die Einhaltung der ihm innewohnenden Auflagen war absolut zwingend, denn eine Nichtbeachtung war schlichtweg verheerend: die persönliche Verbindung zum Seischinn wurde schlagartig gekappt. Das war überhaupt das Schlimmste, was einem Janíma passieren konnte. Das war schlimmer als der Tod.
"Warum nur", fragte DaRoc in die Runde, "warum wird so etwas Banales wie diese alten Geschichten einem Erweiterten Jaxulan unterworfen? Was hat sich dieser Janíma dabei bloß gedacht? Was wollte er wirklich verstecken?"
"Vielleicht gar nichts, vielleicht hat er es gar nicht getan", gab DaiRa zu bedenken. "Vielleicht hat er es einfach so gefunden, irgendwo, genauso wie wir auch. Und weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, hat er einen lediglich einen Ehrenhaften Jofasz darübergeworfen um sicherzustellen, dass das ArcoCromal in die Bibliothek gelangt."
Die JaníBaraSin sahen sich an: Der Schöpfer des ArcoCromals hatte offensichtlich vorausgesehen, welche Rückschlüsse ein Leser zwangsläufig ziehen würde. Schließlich enthüllte eine der Heldensagen das Geheimnis körperlicher Unverwundbarkeit. Der Sicherheitsgarant verhinderte allerdings, dass ein Janíma sich das dafür erforderliche Drachenblut einfach so beschaffen konnte, denn er verbot den Einsatz von Magie, Gestaltwandlung und Zeitreise. Und wie sollte ein vernünftiger Janíma derart gebunden auf Drachenjagd gehen? Dennoch: Sie würden es versuchen, das war so klar, dass sie nicht einmal darüber nachdenken mussten. Das war doch eine Herausforderung, die sie einfach annehmen mussten. Gefahr und Schwierigkeiten hatte sie noch nie von einem Abenteuer abgehalten. Und dies war das größte Abenteuer aller Zeiten und das Ziel jedes Risiko wert.
Von einem Moment zum anderen verschwanden die sechs Schwäne so als wären sie nie dagewesen.

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