Kapitel 49

Der Bus hielt in einem kleinen Dörfchen, das am Fuß jenes Berges lag. Die Busfahrerin stieg aus und öffnete den Kofferraum. Ohne eine Erklärung abzugeben stieg die Reiseleiterin ebenfalls aus. Die anderen folgten neugierig und schwärmten zügig aus, wobei sie eifrig schnatternd auf vermeintliche Sehenswürdigkeiten hinwiesen. Dicht zusammengedrängte, niedrige Häuser begrenzten den mit groben Steinen gepflasterten Platz. Ein kleiner Brunnen, von einem verwitterten Kreuz gekrönt, stand zwischen Trauerweiden. Die mit Knoblauchgirlanden umrahmten Fenster und Türen waren geschlossen. Kein Mensch war zu sehen. Nur eine schwarze Katze sprang fauchend von einem Bänkchen und verschwand in einer schmalen Gasse. Kein Sonnenschirm, kein Straßencafé, kein Reklameschild, nichts. Ganz von allein wurden die Touristen immer stiller, immer nachdenklicher, bis es auch der letzte bemerkt hatte: Hier herrschte eine unheimliche Stille. Ratternd riss der davonbretternde Bus die Aufmerksamkeit an sich. Zurück blieben die fein säuberlich am Straßenrand aufgereihten Gepäckstücke. Und natürlich die verdutzte Reisegesellschaft, das ähnlich unmögliche Erlebnis am Flughafen noch in guter Erinnerung. Was sollte das denn nun schon wieder? Schon wieder Kofferschleppen? Sollten sie etwa den Berg zu Fuß hinaufgehen? Dieses unwirtliche Dorf konnte doch wohl nicht die Endstation sein? Das Läuten der Kirchenglocken machte allen Spekulationen ein jähes Ende. Es übertönte das empörte Gemurre der Gruppe und lockte die Dorfbewohner aus ihren Häusern. In der fortgeschrittenen Dämmerung kaum noch erkennbar, huschten schwarz gekleidete Menschen in geduckter Haltung vorbei. Es war nicht zu übersehen, dass sie immer wieder ängstlich zur Burg hinaufsahen und sich dabei schnell bekreuzigten, bevor sie eilig in die Hauptstraße einbogen, an deren Ende eine Kirche die Portale weit geöffnet hatte. Ganz klar! In diesem Dorf war die Zeit stehengeblieben, die Bedrohung durch böse Vampire allgegenwärtig. Das Läuten hörte auf, wurde abgelöst durch einen unheimlich klagenden Laut, der die daraufhin eintretende Stille umso beklemmender machte. Was um Himmels Willen war das bloß? Einem unausgesprochenen Kommando folgend, drängten sich alle schutzsuchend aneinander. Was ging hier vor? Wo war die Reiseleiterin? Einzig Hugo Grünberg versuchte sich mit dummen Sprüchen, wurde jedoch von den anderen mit bösen Blicken zum Schweigen gebrachte. Die Gruppendynamik funktionierte bestens.
"Wer weiß,“ flüsterte Fritz-Rüdiger May und wandte sich an Klaus Kuhlmann, „wo wir hier gelandet sind? Man munkelt doch immer wieder was über undurchsichtige Geschäfte und Schmuggel und Mafia und was weiß ich. Vielleicht gibt es hier ja gar kein Luxushotel, vielleicht ist hier ein Umschlagplatz für Menschenhändler. Es verschenkt doch niemand teure Reisen ohne entsprechende Gegenleistung? Ob wir hier je wieder herauskommen?" Klaus Kuhlmann sah ihn eine Sekunde perplex an, wollte eigentlich schallend lachen, aber mehr als ein Krächzen brachte er nicht hervor. "Glauben Sie vielleicht, irgendein obskurer Menschenhändler hätte ausgerechnet Interesse an Ihnen? Ich will Ihnen ja nicht zu nahetreten, guter Mann, aber Sie sind viel zu alt. Die brauchen Frischfleisch. Ich glaube, Sie lesen zu viel in bestimmten Illustrierten."

Eva Vollmer, die unter eine Trauerweide geschlüpft war, beobachtete schmunzelnd die Reaktion der ihr Anvertrauten auf diesen ersten "Grusel". Es hatte perfekt geklappt; die schauspielerischen Fähigkeiten und das Organisationstalent der Dorfbewohner waren einfach bewundernswert. Wenn sie nicht schon Gelegenheit gehabt hätte, die Dorfbewohner in ihrer Freizeit kennenzulernen, sie hätte wie die anderen geglaubt, dass hier nur weltfremde, zurückgebliebene, abergläubische Menschen leben. Doch so wusste sie, sich die Leute hier nicht vor Vampiren fürchteten, sondern lediglich gern und tief in die Taschen der Touristen griffen und alles dafür taten, diesen den Aufenthalt so gruselig wie möglich zu gestalten. Selbst der Dorfpfarrer spielte mit und hielt die Abendmesse immer erst bei Einbruch der Dunkelheit ab.

Es war schon sehr, sehr dunkel geworden, als ein grässliches Rasseln und Rumpeln schnell näherkam und lauter wurde. Der Gedanke an ein übergroßes Skelett auf, das klappernd seine Runden drehte, drängte sich automatisch auf. Fast alle waren davon überzeugt, dass ihr letztes Stündlein gekommen sei. Ein kollektiver Schreckensschrei durchschnitt die Stille. Flackernde Feuerzungen fielen aus dem Himmel herab und kamen hüpfend näher. Ohne Ausnahme hielten alle die Luft an. War die Furcht vor dem Kommenden schon groß gewesen, die Erleichterung, als es endlich da war, war um vieles größer. Kein garstiger Dämon, kein hungriger Feuergeist und schon gar kein blutrünstiger Vampir war gekommen, sie zu verschlingen oder zu verderben. Selbstverständlich gab es für die Erscheinung eine ganz einfache, eine ganz natürliche Erklärung: Zwei Pferdekutschen! Pferde und Wagen schwarz wie die Nacht, und deswegen nicht zu sehen. Die feurige Erscheinung war nichts weiter als die außen angebrachte Beleuchtung!
Da trat kam auch die Reiseleiterin wieder zum Vorschein, sie hatte sich unter einer Trauerweide versteckt (wie einfallsreich!), die Kutscher sprangen ab und luden das Gepäck auf. Man stieg eilends ein: erstmal weg hier, sicher ist sicher!
Die drei Ehepaare teilten sich eine, die vier ungleichen Männer, die andere Kutsche. Eva Vollmer zog den zugigen Platz neben dem Kutscher vor; alles besser, als mit diesem Grünbaum auf engstem Raum zusammenzusitzen.

Ohne weitere Verzögerungen durch Gruseleinlagen ging es in rumpelnder Fahrt den steilen Weg zum Schloss hinauf bis sie schließlich durch ein gewaltiges Tor fuhren und vor einem hell erleuchteten Portal zum Stehen kamen. Von da an ging alles seinen gewohnten Gang (internationaler Touristenstandard der Superklasse). Bei einem exzellenten Abendessen konnte man über die Episode im Dorf herzhaft lachen. Nach dem Essen begrüßte sie die Geschäftsführerin und geleitete sie persönlich in die gemütliche Bar, wo auf Kosten des Hauses ein Schlummertrunk angeboten wurde. Die meisten zogen sich danach in die Zimmer zurück. Die Geisterstunde stand kurz bevor, und wenn man der Geschäftsführerin glauben durfte, war es besser, diese in der Sicherheit eines Bettes zu verbringen.

Schlag Mitternacht sprangen die Fensterflügel auf. Lange, weiße Vorhänge bauschten sich unheilschwanger im kühlen Nachtwind. Außergewöhnlich große Katzen sprangen fauchend herein und flitzten in wilder Jagd im Zimmer umher. Irres Lachen quoll aus dem Kamin hervor, wurde jedoch gleich darauf von beklemmender Stille vertrieben, die sich weitaus schlimmer anhörte als jedes noch so merkwürdige Geräusch. Als sich die Zimmertür knarrend öffnete, war es fast wie eine Erlösung. Schlurfende Schritte, begleitet von rasselnden Atemgeräuschen, näherten sich dem Bett. Flackerndes Kerzenlicht warf furchterregende Schatten. Wer sich hinzusehen traute, sah ein wachsbleiches, uraltes Gesicht, dessen zahnloser Mund mit brüchiger Stimme unverständliche Worte deklamierte. Dazu gesellten sich gespenstische Tonleitern, die sich mit dem monotonen Gesang, der in eine schwarze Kutte gehüllten Gestalt von sich gab, zu einem makabren Höhepunkt vereinigte. Ein mit riesigen Zähnen ausgestatteter Mund neigte sich hinab, doch bevor er zum tödlichen Biss ansetzen konnte, ertönte ein lauter Gong und der ganze Spuk verschwand wie durch Geisterhand. Die Fenster ordnungsgemäß geschlossen, die Vorhänge bewegungslos, die Katzen im Kamin verschwunden, konnte man sich in den weichen Kissen erleichtert umdrehen und endlich unbehelligt ins Reich der Träume wandern.

Am nächsten Morgen wurden man geweckt von unaufdringlicher Musik, die aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte. Sie machte das Aufwachen zu einem Vergnügen und vertrieb jedwede Erinnerung an alptraumhafte Erscheinungen rigoros. Im sonnendurchfluteten Frühstücksraum ließ ein reichhaltiges Buffet keine Wünsche offen. Nur der Anblick einer großen, weißen Katze, die auf dem Kaminsims schlief, erinnerte vage an den mitternächtlichen Spuk. Lachend unterhielt man sich darüber und nahm sich vor, sich in der kommenden Nacht nicht mehr ins Bockshorn jagen zu lassen. Hugo Grünberg, das aufgedunsene Gesicht noch ziemlich blass, lachte am lautesten und propagierte aufdringlich sein Anti-Vampi-Mittel. Diejenigen, die ihn am Abend zuvor erlebt hatten, sahen sich bei seinen Ausführungen bedeutungsvoll an. Schwankend und unter stimmgewaltigem Protest war er von zwei kräftig gebauten Angestellten vom Barhocker gehievt und in sein Zimmer verfrachtet worden.
Rundum satt und zufrieden war man nun für die kommenden Programmpunkte bestens gerüstet. Einer ausgedehnten Fahrt in einer offenen Kutsche, folgte ein kurzer Spaziergang an die Quelle eines kleinen Flüsschens. Ein leichter Mittagsimbiss in einem gemütlichen Dorfgasthof bildete den Schluss des Vormittagsprogramms. Nach der Mittagspause stand eine Führung durch einen Teil der ausgedehnten Burganlage auf dem Programm. Zuerst konnte man von einem hohen Wachturm aus eine atemberaubende Aussicht auf von Zivilisationsschäden unberührte Landschaft genießen. Danach ging es hinab in düstere Kellergewölbe und Höhlen. Unbestrittene Hauptattraktionen war die Bootsfahrt über einen unterirdischen See und die Besichtigung der Verliese, in denen zum Teil noch Skelettreste zu sehen waren.
In der Folterkammer kam es zu einem heiklen Zwischenfall. Hugo Grünberg, von den diversen Gerätschaften überaus fasziniert, konnte erst in letzter Minute von einem der hauseigenen Folterknechte daran gehindert werden, die arme Diana Bach in eine eiserne Jungfrau zu verfrachten. Der Ehemann hatte der ganzen Sache ungerührt zugesehen. Man hätte meinen können, es wäre ihm nur recht gewesen, wenn er seine Ehefrau auf diese Weise losgeworden wäre.
Ein frühes Abendessen, das im Ritterkeller serviert wurde, stillte den Hunger, den die Anstrengungen des Nachmittags hervorgerufen hatte, mehr als überreichlich. Die Aussicht, bald schon dem Hausherrn gegenüberzutreten, der mit Dracula verwandt sein wollte, brachte den nötigen Kitzel in den eher als langweilig angesehenen Programmpunkt des Abends: Der Graf höchstpersönlich würde eine Anekdote aus der bewegten Vergangenheit seiner Familie zum Besten geben.

Eva Vollmer nahm nicht am gemeinsamen Abendessen teil, sondern nahm den Zimmerservice in Anspruch. Sie brauchte eine kleine Verschnaufpause. 'Verlier niemals die Stöckelschuhe auf der Flucht vor Vampiren, Triebtätern oder Extraterrestriern' war einer der Lieblingssprüche ihrer Freundin Marianna, der ihr in den Sinn kam, als sie die Bergsteigerstiefel auszog. Und sie dachte schadenfroh grinsend an Paula Häkelwein, die während der Burgbesichtigung in ebensolchen Stöckelschuhen, doch tatsächlich einen verloren hatte. Glücklicherweise war ein dienstbeflissener Angestellter in der Nähe, der ihr unauffällig aus der misslichen Lage geholfen hatte.

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