Kapitel 48

Dunkle Wolken schoben sich unheilvoll vor die Sonne und verdunkelten den klaren Septemberhimmel genau in dem Augenblick, als eine kleine Gruppe elegant gekleideter Damen und Herren auf einer wackligen Treppe das kleine Flugzeug verließ, das auf einer holprigen Piste in einer trostlosen Einöde gelandet war. Eine Bäuerin, die sich während des Fluges krampfhaft an ihrem großen Einkaufskorb festgehalten und sich permanent bekreuzigt hatte, folgte ihnen unsicheren Schrittes, blühte jedoch zusehends auf, je weiter sie sich vom Flugzeug entfernte. Während des Fluges hatte der Inhalt ihres Korbes für einige Kurzweil gesorgt, auch wenn nicht alle die Episode gleichermaßen lustig fanden. Ein gackerndes Huhn war entwischt und suchte in der allgemeinen Aufregung Zuflucht auf dem Schoß einer Dame, wo es auf deren Designerkostüm aus dunkelblauer Seide ein paar weiße Federn verlor. Zum Glück hatte das beherzte Eingreifen des smarten Stewarts ein größeres Missgeschick verhindert. Freilaufende Hühner im Flugzeug hatte die elegante Reisegruppe zwar verdutzt, aber man hatte es einigermaßen gnädig ertragen. Doch das Fehlen all dessen, was einen modernen Flughafen ausmachte, ließ erste Unmutsäußerungen laut werden. Mangels Alternativen folgten sie nach kurzem Überlegen jener Bäuerin, die auf das einzige Gebäude zustrebte, das weit und breit zu sehen war. Beim Näherkommen stellte sich heraus, dass von einem Gebäude nicht die Rede sein konnte, handelte es sich allenfalls um eine Lagerhalle, in der es überdies ziemlich zog. Es war jedoch eindeutig die Flughafenhalle, denn es gab einen hochmodernen, weißen Schalter, der gekrönt war mit dem Emblem der Fluggesellschaft, mit der sie geflogen waren. Leider war der Schalter nicht besetzt, die heruntergelassene Jalousie war eindeutig. Ein mit Koffern bepackter Wagen, der sehr an ein bäuerliches Gefährt erinnerte, stand daneben, was für die nächste Empörungswelle sorgte: das kostbare Gepäck unbewacht in diesem Schuppen! Unbemerkt tauchte ein vierschrötiger, glatzköpfiger Kerl in ausgebeulten Arbeitshosen und einem weißen, ärmellosen T-Shirt neben ihnen auf. Er fuchtelte mit seinen stark behaarten Armen wild herum, ließ seine zahlreichen Muskeln spielen, spuckte mehrmals auf den Boden und deutete auf den Wagen, bevor er sich in aller Gemütsruhe eine dicke Zigarre anzündete und den Rauch nachdrücklich zur Decke blies. Es blieb kein Zweifel offen an dem, was er von den herumstehenden Herrschaften forderte. Die allgemeine Empörung, allerdings nur verhalten geäußert, wurde immer größer. Aber was sollten sie machen? Breitbeinig, mit gekreuzten Armen, grimmige Blicke schleudernd und auf der Zigarre kauend, stand dieser Kerl da und rührte keinen Finger. So fügte man sich murrend in das Schicksal und die Herren der Reisegesellschaft luden das Gepäck ab. Sogleich zog der Kerl den schweren Wagen als sei er federleicht aus der Halle, was ihm heimliche Blicke, teils neidische, teils bewundernde, einbrachte. Verdrießlich machte man sich ans Warten. Vereinzelt wurden Flachmänner aus den Taschen gezogen und die verschiedenen Rauchartikel angezündet. Die Unterhaltung drehte sich noch eine Weile um die unmöglichen Zustände auf diesem unmöglichen Flughafen, bevor sie ganz verstummte. Nach einer Weile wurde die eingekehrte Stille unterbrochen. Das unhöfliche Muskelpaket stellte erneut seine Kräfte zur Schau und schob eins der großen Tore des Schuppens zu. Nichts Gutes ahnend erhob man sich und viele Hände schlossen sich automatisch fester um Taschen- und Koffergriffe. Dann kam er gemächlich auf sie zugeschlendert und hob einen großen Schlüsselbund rasselnd in die Höhe. Offensichtlich war er keiner gängigen Fremdsprache mächtig, was aber auch nicht nötig war. Nur waren die Mitglieder der eleganten Reisegruppe keinesfalls geneigt, seiner Aufforderung nachzukommen. Zugig hin oder her, hier drinnen war es jedenfalls trocken. Der Kerl ließ sich auf nichts ein, ließ sich von nichts verlocken, weder von den Flachmännern, noch von den koketten Blicken der Damen. Selbst eine Rolex, die eilig vom Handgelenk genommen und ihm vor die Nase gehalten wurde, konnte ihn umstimmen. An solche Behandlung nicht gewöhnt, pochte man nun lautstark auf die international gültigen Rechte als Tourist, kreischte nach der nicht vorhandenen Reiseleitung und rannte aufgeregt umher.
Vargo ließ sich von dem ausländischen Geschnatter nicht beeindrucken, er hatte Feierabend und dazu gehörte nun mal, dass die Halle geräumt und abgeschlossen werden musste. Nachdem er auch den letzten der Truppe, einen mittelalterlichen Dicken, der sich sehr widersetzte, ebenfalls hinausbugsiert hatte, schob er das zweite Tor geräuschvoll zu und verriegelte es sorgsam mit einem großen Vorhängeschloss. Dann setzte er ein knallgelbes Basecap auf, zündete sich noch eine Zigarre an und schlenderte vergnügt pfeifend durch den strömenden Regen davon.

Zurück ließ er elf Personen, allesamt Gewinner eines Wochenendtrips ins Luxus-Gruselschloss, die nicht mehr so recht dran glauben mochten, glückliche Gewinner zu sein. Keiner, der nicht in diesem Moment, mehr oder weniger vornehm, über Steingartens Tombola fluchte. Waren sie reingelegt worden? War dies einer jener eigenartigen Scherze, zu denen er manchmal neigte? Es herrschte unelegantes Gedränge auf dem nur unzureichend überdachten Vorplatz der ehemaligen Lager- und jetzigen Flughafenhalle. Nur zwei waren perfekt ausgerüstet und hatten sowohl dicke Strickjacken als auch Regenschirme dabei.
„Ich hab's ja gleich gesagt! Aber auf mich wolltest du ja nicht hören! Als ob wir es nötig haben, uns etwas schenken zu lassen! Wir doch nicht! Das ist doch der totale Reinfall mit dieser blöden Tombola! Jetzt stehen wir in dieser gottverlassenen Gegend im Regen!" zeterte Paula Häckelwein ungehalten, was ihren Mann Rudolph nicht davon abhielt, ungerührt und in seinem Baedeker zu blättern.
"Ich hoffe nur, dass wir die Nacht nicht hier verbringen müssen," wagte Edith Markmann leise zu äußern. "Ach Quatsch," fuhr ihr der Gatte gereizt über den Mund. Jedes Wort von ihr war ihm im Moment zuviel. "Der Steingarten ist kein übler Bursche, der lässt keinen im Regen stehen!" Er lachte für einen Mann ziemlich quietschend und sah befriedigt in die Runde. Egal was auch immer passierte oder nicht, jetzt war klargestellt, dass Heribert Markmann den Finanzier dieser Reise persönlich kannte. "Aber wenn uns niemand abholt, was machen wir dann?" begann Edith nochmals mit klagender Stimme. "Schluss jetzt damit! Ich will nichts mehr davon hören!" Immer dieses Gejammer, ich hätte sie nicht mitnehmen sollen, dachte er und zog die Augenbrauen düster zusammen.
"Ich will sofort zurück", quengelte Diana Bach und hakte sich bei ihrem Ehemann unter, der sie nicht weiter beachtete. "Ich will zurück", setzte sie nochmal an und schlüpfte mit ihrer kleinen, auffällig ringbestückten Hand unter sein Jackett. "Deinem kleinen Mädchen ist kalt!“ Peter Bach machte sich mit einer groben Bewegung, die sie ins Stolpern brachte, von ihr frei.
Hugo Grünberg, stadtbekannter Lebemann, stellte daraufhin mehrfach und unter wachsender Zustimmung fest, dass es ein Unding sei, mit der eigenen Ehefrau im Gepäck auf ein amüsantes Wochenende zu hoffen. Derart ins Blickfeld geraten, sorgte er sodann mit launigen Herrenwitzen für schallendes Gelächter. Selbst Rudolph Häckelwein, schon ganz rot im Gesicht, hatte den Reiseführer beiseitegelegt. Einzig der junge Hermann von Wetterstein, dem auf der Reise hierher keiner mehr als einsilbige Antworten entlocken konnte, hielt sich weiterhin abseits und verzog keine Miene.
Paula Häckelwein und Edith Markmann schmollten derweil ein wenig, kramten, um sich abzulenken, angelegentlich in ihren Handtäschchen. Nachdem die Nasen gepudert und die Lippen nachgezogen waren, machten sie gute Miene und quälten sich ein Lächeln ab, wann immer das Gelächter der Herren einen Höhepunkt ansteuerte, was ihnen zumindest ein freundliches Nicken der ausgelassenen Runde einbrachte. Diana Bach dagegen war untröstlich. Die Lippen fest zusammengepresst bedachte sie ihren Mann mit tragisch-bösen Blicken, schniefte immer wieder mal vernehmlich und rieb sich auffallend behutsam den Ellbogen.

Da näherte sich auf der Landstraße mit Getöse ein Gefährt, das sich beim Näherkommen als kleiner Reisebus mit durchsichtigem Dach entpuppte, was alle zunächst mit Erleichterung, doch dann mit zunehmender Skepsis betrachteten. Der Bus ratterte und schepperte fürchterlich und wirkte alles in allem nicht sonderlich vertrauenserweckend. Sah man den Bus von hinten wurde schnell klar, dass er modernen Abgasbestimmungen ganz sicher nicht gerecht wurde. Der Bus hielt mit einem lauten Knall an. In diesem Moment hörte der Regen auf und vereinzelt schimmerten Sonnenstrahlen durch die zusehends dünner werdende Wolkendecke. Nassglänzende Wiesen schimmerten in der Sonne. Die Fahrerin stieg behände aus und kümmerte sich resolut um das Verladen des Gepäcks. Die junge, freundliche Reiseleiterin verteilte Sandwiches und warme Getränke. Was wollte man mehr? Die Entschuldigung wurde gnädig angenommen. Die Erleichterung, endlich hier wegzukommen, war viel zu groß. Erlöst stieg man in den Bus und richtete sich auf die Weiterfahrt ein.
Hugo Grünberg dagegen hatte es nicht eilig, einen Sitzplatz einzunehmen. Als misstrauischer Mensch musste er sich persönlich davon überzeugen, dass sein Koffer auch wirklich im Bauch des Busses landete. Er war viel auf Reisen und hatte so seine Erfahrungen, was er lautstark betonte. Erst als ihn die Reiseleiterin aufforderte, doch endlich einzusteigen, gab er seinen Beobachtungsposten auf und stellte sich vor. Die Reiseleiterin hakte den Namen auf der Liste ab, nickte ihm zu, sah ihn an, wurde blass und erinnerte sich.

Das gackernde Gelächter der Freundinnen, ihre schrillen Stimmen, ihre wilden Rufe: "Wir gehen zum Film! Wir werden berühmt! Du zuerst!" Eine Tür, die aufgerissen wurde, ein Stoß, dann war sie allein in einem düsteren Raum. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das schwache Licht. Mitten im Zimmer stand ein überdimensionales Sofa. Dann sah sie ihn. Genüsslich zog er an einer riesigen Zigarre, paffte dicke Rauchwolken. Das Hemd halb offen, spannte sich um den feisten Wanst. Mühsam erhob er sich aus einem Sessel links neben dem Sofa, ein volles Glas in der Hand.
"Nun mal nicht so verkrampft, kleines Fräulein! Auch ein Schlückchen gefällig? Das entspannt!" Unfähig, sich zu rühren, starrte sie ihn an; sein unflätiges Lachen ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. "Komm her, Mädchen! Komm her, damit ich dich besser sehen kann!" Die Zigarre in seiner Hand dampfte. Mit einem Ruck trank er das Glas aus, knallte es auf den Kaminsims, sichtlich verärgert über ihre unbewegte Haltung. "Ich muss wissen, wie du gebaut bist. Sonst kann ich nichts für dich tun, das verstehst du doch! Es warten noch andere. Zieh dich aus! Ein bisschen zackig! Ich hab' nicht ewig Zeit." Er streckte die dicken Hände nach ihr aus, die Zigarre dampfte immer noch, Asche fiel auf den Teppich bei dieser Bewegung. Dann kam er auf sie zu und endlich Leben in Eva.
Wie von der Tarantel gestochen drehte sie sich um, riss die Tür auf und rannte und rannte und rannte. Vorbei an den kreischenden Freundinnen, die ihr folgten, die Treppen hinab und immer weiter, immer weiter, bis sie endlich zuhause war und in ihrem Zimmer mit zitternden Fingern und völlig außer Atem den Schlüssel rumdrehte. Ihren Freundinnen hatten sich einen üblen Scherz mit ihr geleistet und damit eine langjährige Kinderfreundschaft beendet.

Hugo Grünbaum, seinerzeit (vielleicht sogar immer noch) Pornoproduzent war jetzt jemand, zu dem sie gezwungenermaßen freundlich sein müsste. Natürlich erinnerte er sich nicht an sie. Eva Vollmer straffte die Schultern, holte tief Luft, doch sie brachte keinen Ton hervor. Wichtigtuerisch stand er neben ihr, fuchtelte mit den Händen und lamentierte ausgiebig über die Zustände in diesem Land, wobei er sie zustimmungsheischend ansah. Eindringlich wies er auf seine weltmännische Erfahrung hin und betonte, dass er ihr diese jederzeit zur Verfügung stellen würde. Wort für Wort war er nähergekommen und tätschelte ihr jetzt vertraulich auf der Schulter herum. Sein Atem roch nach Alkohol, in seiner Hand dampfte eine dicke Zigarre.
Nur nichts anmerken lassen, dachte sie, nur nichts anmerken lassen. Nach einer quälend langen Minute ließ er endlich von ihr ab und stieg in den Bus, wenn auch nicht ganz freiwillig.
Hugo wusste immer, wann es Zeit war zu verschwinden. Die Busfahrerin hatte ihn im Vorbeigehen angerempelt und drohend angefunkelt. Sie war zwar viel kleiner als er, doch ihr Auftreten verriet, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Es ist doch immer das gleiche Theater mit den Weibern, dachte er gereizt und ließ sich auf den freien Platz neben dem jungen Mann fallen. Weiber! Statt mit ihm zu verreisen, hatte Marlene, seine langjährige Geliebte, vor ein paar Tagen völlig unverständlicherweise mit einem Mal auf klare Verhältnisse gepocht und letztendlich mit ihm gebrochen. Sie hatte doch von Anfang an gewusst, dass eine Scheidung für ihn niemals in Frage kam. Er hatte ihr nie etwas vorgemacht. Warum wollte sie nun plötzlich mehr? Es war doch viel besser so! Er hatte ihr die Lage ausgiebig erklärt, doch sie hatte ihn partout nicht verstehen wollen. Schlussendlich hatte sie ihn aus der Wohnung geworfen, aus der Wohnung, die er ihr gekauft hatte. Das würde sie noch bereuen! Weiber!

Die Busfahrerin schloss die Türen, schaltete den Motor an und fuhr mit lautem Getöse los. Eva Vollmer machte ihren Mund mehrmals auf und zu, um die angespannte Gesichtsmuskulatur zu lockern. Das Lächeln war ihr in den letzten Minuten auf dem Gesicht eingefroren. Das fing ja gut an, dachte sie frustriert, da steht mir ja ein feines Grusel-Wochenende bevor. Mit dem Wissen, diesen fiesen Grünbaum genau hinter sich sitzen zu haben, fiel es ihr nicht leicht, zur professionellen Freundlichkeit zurückzukehren. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie mit ihm noch Ärger bekommen würde. Und nicht nur mit ihm. Die Frauen waren ihr vom ersten Augenblick an nicht geheuer gewesen. Sie strahlten etwas aus, das förmlich nach Unheil roch. Überdies schienen sie sie als Konkurrenz in der Gunst um die holde Männlichkeit zu betrachten, was an den Blicken, die sie ihr und sich zuwarfen, nur allzu deutlich zu erkennen war. Na wunderbar, dachte sie sarkastisch, und das alles in einer knappen Viertelstunde. Glücklicherweise konnte sie sich auf die Busfahrerin, früher eine erfolgreiche Diskuswerferin, verlassen, auch wenn es auf der Herfahrt nicht so ausgesehen hatte; sie hatte sich beharrlich in eisiges Schweigen gehüllt. Eva Vollmer atmete tief durch, bevor sie sich hinstellte und sich umdrehte. Den glotzenden Grünbaum versuchte sie so gut es ging zu ignorieren. Sie holte nochmals tief Luft, entschuldigte sich nochmals für die Verspätung und erläuterte die Reiseroute in knappen Worten.

Der junge Hermann von Wetterstein verwünschte von ganzem Herzen seine Tollkühnheit, die ihn dazu getrieben hatte, sich allein auf diese abenteuerliche Reise zu begeben. Wäre er nur nicht mitgegangen auf diese Wohltätigkeitsveranstaltung, hätte er sich doch nur nie ein Los gekauft. Wie ein Schneekönig hatte er sich über den Hauptgewinn und Christine stolz den Reise-Gutschein präsentiert. Gänzlich ohne eigenes Einkommen war es für ihn eine sehr willkommene Gelegenheit gewesen, ihr endlich etwas schenken zu können, was er nicht zuvor von ihrem Geld hatte kaufen müssen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre angesichts ihrer Reaktion in Tränen ausgebrochen. 'Eine von Wetterstein fährt doch nicht zusammengepfercht mit anderen Leuten ins Wochenende, nein nein, wenn du willst, kannst du ja mitfahren, aber ohne mich, außerdem habe ich an diesem Wochenende sowieso keine Zeit, wir können ja ein andermal dorthin fahren, ich habe schon von diesem Hotel gehört, du kannst ja mit Elaine fahren, die macht immer bei Preisausschreiben mit und hat noch nie was gewonnen, die kann dann gleich auf dich aufpassen.' Ausgerechnet mit Elaine! Und sie hatte so gelacht, und sie war so laut geworden. Das tat sie immer, wenn sie zuviel Champagner intus hatte. Die Leute am Nebentisch hatten getuschelt und herübergestarrt. Ausgerechnet mit Elaine! Selbst jetzt noch kränkte ihn dies so sehr, dass er schnell ein Taschentuch hervorzog und sich kräftig die Nase schnäuzte, was ihm ein väterliches Schulterklopfen seitens seines Nebenmannes einbrachte.
"Nur jetzt nicht schlappmachen, junger Mann", munterte ihn dieser auf und holte aus seiner Jackentasche einen Flachmann. "Hier mein Junge, nimm einen kräftigen Schluck, mein Spezialrezept, hilft in allen Lebenslagen und vertreibt jede Erkältung." Jovial schraubte er den Deckel ab und drückte ihm das Fläschchen in die Hand.
Hermann von Wetterstein nahm einen winzigen Schluck, denn er traute sich nicht, das Angebot abzulehnen. Im Weiteren tat er sein Bestes, den Nebenmann zu ignorieren, indem er eingehend die vorüberziehende Landschaft betrachtete. Sein Lunchpaket hielt er ungeöffnet auf dem Schoß. Er hatte überhaupt keinen Appetit.

Irgendwann, mittlerweile ragten hohe Berge vor ihnen auf, hielt der Bus für eine kurze Rast. Hermann von Wetterstein kaufte eine Ansichtskarte, die er, seinem Kummer zum Trotz, an Christine schickte. Als er wieder in den Bus zurückkam, saß Hugo Grünberg auf dem Fensterplatz. Das schien ihm die Gelegenheit, sich von dem lästigen Nebenmann zu trennen und einen anderen Platz einzunehmen. Doch dieser duldete es nicht.
"Nicht doch, junger Mann, bleiben Sie mal hier", polterte Hugo Grünberg, hielt ihn am Jackett fest, zog ihn zurück und kam mit seinem fettglänzenden Gesicht ganz dicht an Hermanns Ohr. "Die Aussicht ist hier vorne doch viel besser," erklärte er mit einem fast schon gemeinen Grinsen und deutete unverhohlen auf den Hinterkopf der Reiseleiterin.
Hermann von Wettersteins Mund verrutschte zu einem kläglichen Grinsen, dabei hätte er ihn am liebsten auf der Stelle verdroschen. Er verkroch sich in seinen Sitz, wobei er so weit wie möglich von ihm abrückte, was bei dessen massigen Körper und dem engen Sitzplatz nicht ganz einfach war, und sah zum Dachfenster hinaus.
Vor Hugo Grünberg gab es kein Entkommen, weder für Hermann von Wetterstein noch für Eva Vollmer. Statt - wie die übrigen - das beeindruckende Panorama andächtig zu betrachten, beugte er sich immer wieder nach vorne, wobei der dicke Bauch unangenehm nah an Hermann vorbeistreifte, um der Reiseleiterin dumme Fragen zu stellen.
Eva Vollmer klebte schon fast an der Windschutzscheibe, als die Busfahrerin sich der Sache annahm. Als der Dicke seinen Oberkörper zum tausendsten Mal nach vorne lehnte, trat sie voll in die Bremse. Ein übler Schwall von Schimpfwörtern ergoss sich über sie, was sie völlig ungerührt ließ. "Sie bleiben still sitzen!“ befahl sie ihm mit grollend tiefer Stimme. „Oder Sie gehen zu Fuß!" Ein wie zufällig wirkender Griff auf einen großen Schraubenschlüssel unterstrichen die Ernsthaftigkeit ihrer Worte und brachten ihn schnell zur Ruhe. Mit einer bei seiner Körperfülle unvermuteten Behändigkeit setzte er sich und beugte sich auffällig leutselig zu seinem Nebenmann hinüber.
"Sie kommen heute Abend doch sicher mit in die Hotelbar, da werden wir mehr Glück haben. Diese herrische Busfahrerin kann aber auch gar keinen Spaß verstehen. Der fehlt doch nur ein Mann ... Ho! Ho! Ho!" Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er das Gesicht weg und starrte fortan mit grimmiger Miene aus dem Fenster.

Im Laufe der Fahrt rückten die hohen Berge näher an die Straße heran und engten die Sicht auf den Himmel ein. Die tiefen Schluchten, an deren Ränder der altersschwache Bus in halsbrecherischem Tempo entlangkurvte, wurden immer tiefer. Klein und unscheinbar fühlte man sich in Gegenwart solcher Naturgewalt. Nur die Mutigsten wagten ab und an einen schnellen Blick in die Tiefe. Hermann von Wetterstein war heilfroh, keinen Fensterplatz mehr zu haben. Der Ausblick, den das Dach gewährte, war ihm atemberaubend genug. Fritz-Rüdiger May erinnerte sich, sehr zum Vergnügen seines Weggefährten Klaus Kuhlmann, an die Gebete seiner Jugend und murmelte diese mit pathetischer Inbrunst. Mit Eintritt in die gebirgige Landschaft hatte die Busfahrerin die überraschend gute Stereoanlage eingeschaltet. Bombastische Klänge wühlten die Reisegesellschaft zusätzlich auf. Musik- und Naturereignis, in wunderbarer Weise aufeinander abgestimmt, sorgten dafür, dass bei jedem Paukenschlag jeder - erwartungsgemäß - zusammenzuckten.
Nach einer der unzähligen Kurven traten die Berge plötzlich zurück, um einem Artgenossen, der sich inmitten einer Ebene erhob, Platz zu machen. Im Gegenlicht der untergehenden Sonne sah man auf seiner Spitze die Umrisse einer Burg, einen gespenstischen Scherenschnitt aus Licht und Schatten, der eindrucksvoll darauf hinwies, in welcher Gegend sie sich befanden. Es gab kaum einen, außer Hugo Grünberg vielleicht, der sich in diesem Augenblick nicht verzaubert fühlte von diesem Anblick und geschworen hätte, Draculas Schloss vor sich zu sehen.

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