Kapitel 44

Es war Donnerstag und Vince langweilte sich. Er langweilte sich schon seit einer Woche und das ging ihm gehörig aufs Gemüt: kein Treffen im Übungsraum und auch sonst nichts los ... Die Band machte Sommerpause; und das noch eine ganze Weile. Nicht ganz freiwillig vielleicht, aber es war sicher besser so. Zwei Tage nach dem Brauerei-Spektakel hatte man sich noch einmal kurz getroffen; ohne Alexander, denn dieser war schon im Urlaub. Hauptthema waren die Reisepläne der anderen und Evas Auftritt gewesen. Peter und Andreas schwärmten so ausgiebig über ihre Fähigkeiten, dass Vince ernsthaft um seine Position zu fürchten begann. Kommentarlos hörte er zu und ließ sich nichts anmerken. Da alle außer ihm studierten, wurde einvernehmlich beschlossen, die allwöchentlichen Übungstreffen erst zum Ende der Semesterferien wie-der aufzunehmen. Vince hütete sich zuzugeben, dass er kein Geld für ausgefallene Urlaubsreisen übrig hatte. Steuern und Motorradversicherung mussten bezahlt werden, ebenso ein verbeulter Kotflügel, den er einem Kumpel schuldig war. Er musste als einziger zu Hause bleiben und arbeiten gehen. Sein Urlaub würde darin bestehen, Ende August zu seiner Großmutter zu fahren und dringend notwendige Reparaturarbeiten in ihrem Häuschen durchzuführen.

Vince stand am geöffneten Fenster und starrte hinaus. Mit jeder Minute, die verging, fühlte er sich miserabler. Der Einfachheit halber blieb er am Fenster stehen und über-ließ sich seinen seit Tagen im Kreis drehenden Gedanken und landete, wie so oft bei der Frage, wer dieses ominöse Rotkäppchen auf ihn angesetzt hatte! Er war sich ganz sicher, dass ihn jemand gehörig aufs Kreuz gelegt hatte. Doch alle, denen er von seinem Verdacht erzählte, lachten ihn mehr oder weniger offen aus. Wer sollte so etwas tun? Und vor allem: warum? Dass Eva derart gegen ihn intrigiert haben sollte, um selbst groß rauszukommen, war vollkommen abwegig. Das war unmöglich. Andrerseits war sie die Einzige, die von seinem Debakel profitiert hatte, wenn man überhaupt von Profit sprechen konnte. Profit, richtigen Profit, hatte doch nur die Getränkefirma gemacht.
Mit jedem Tag, der verging, wurde er zusehends unsicherer, ob er sie jemals geküsst hatte, ob sie jemals bei ihm in der Wohnung gewesen war. Vielleicht hatte er es ja nur geträumt? Schließlich träumte er zuweilen die merkwürdigsten Dinge. Aufgewacht war er jedenfalls allein und letztendlich so richtig erst am drauffolgenden Montag. Das leichte Ziehen in der Gegend, wo allenthalben in Liebesromanen das Herz vermutet wird, das zuverlässig dann auftauchte, wann immer ihm Eva in den Sinn kam, schob er darauf, dass die ganze Angelegenheit ein trübes, überaus peinliches Kapitel in der Geschichte seiner Eroberungen war.
Dank Mariannas Auskunft wusste er zumindest, dass Eva einige Wochen berufsbedingt im sonnigen Süden verbringen würde. Seither wartete er ungeduldig auf den Briefträger in der Hoffnung, eine Postkarte zu bekommen, eine Postkarte von Eva. Natürlich wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Marianna zu fragen, ob Eva ihr anvertraut hatte, dass da was gewesen war. Nun ja, dachte er, so ist das mit den Frauen! Da hätte er jetzt etwas, was er Alexander erzählen konnte, wenn dieser endlich von seinem Landurlaub zurückkommen würde. Wenn er die Lage richtig einschätzte, und da war er sich ziemlich sicher, schließlich kannte er die Frauen, zappelte Marianna am Haken.

Er seufzte tief. Schließlich rief er in die schöne Betty an. Sie war natürlich nicht da, sondern, wie ihm ihre Mitbewohnerin erzählte, mit einem gewissen Marcel auf eine Insel gefahren. Er ärgerte sich über ihre unverhohlene Schadenfreude fast genauso wie über Bettina. Sie hätte es mir ruhig sagen können, dachte er gekränkt. Doch wer weiß, vielleicht wollte sie es sich nicht mit mir verscherzen? Wer weiß schon, was Frauen denken? Vielleicht sollte ich alles sausen lassen und auch abhauen? Irgendwo hin, aufs Land vielleicht, und dort eine Werkstatt aufmachen und Antiquitäten restaurieren. Dummes Zeug, widersprach er sich selbst sofort, was soll denn einer wie ich? Was für ein scheußlicher Tag! Es muss am Wetter liegen! Sein Trübsinn ging ihm selbst schon auf die Nerven. Was war nur mit ihm los? Nur um überhaupt etwas zu tun, telefonierte er, zunehmend verdrießlicher, sein Adressbuch durch, führte ein paar vordergründig engagierte Gespräche und erntete nichts als Absagen: niemand wollte mit ihm ausgehen. Entweder hatten seine Gesprächspartnerinnen seine schlechte Laune gespürt oder sie wollten tatsächlich nichts von ihm wissen. So blieb nur Nicole. Er hatte sie bis zum Schluss aufgehoben, denn eigentlich war ihm dieses Eisen zu heiß. Als sie ihn (nach der bisher einzigen Nacht) während des Frühstücks selig anhimmelte und ihm ein Honigbrötchen nach dem anderen in den Mund schob, dämmerte ihm, worauf er sich da eingelassen hatte. Nicht mit mir, Mädchen, nicht mit mir! Sorry! Sie war zwar sehr nett, aber auch sehr eindeutig, was ihre Zukunftsplanung anging: Heiraten und Kinder kriegen und so schnell wie möglich, am besten sofort. Das war nun genau das, was Vince überhaupt nicht wollte. Niemals! Er hatte sich schleunigst aus dem Staub gemacht und sie seither nicht mehr getroffen. Doch er konnte diesen Tag unmöglich alleine verbringen und die Nacht am besten auch nicht. Er wählte also Nicoles Nummer und gratulierte ihr überaus launig zum Geburtstag. Wie erwartet, lud sie ihn spontan zum Kaffeetrinken ein. Der Tag war gerettet. Er war selbst erstaunt, wie erleichtert er darüber war, sich mit Nicole treffen zu dürfen.

Vince ging bei seinen Eroberungen sehr gewissenhaft vor und notierte sich nicht nur die Geburtstage. Er wusste bestens Bescheid über Lieblings-Restaurants, Lieblings-Eiskremsorten, Lieblings-Kinofilme und andere wissenswerte Dinge, mit denen er zum passenden Zeitpunkt Eindruck schinden konnte. So kam man immer zum Ziel; man musste nur geduldig sein und das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben. Umso mehr, da ihn mit Frauen wenig verband, gar nichts im Grunde genommen, obwohl er jede Menge davon kannte. Sie waren kaum mehr als Konsumartikel, eine wie die andere. Da war kein Platz für romantischen Seelenschmalz. Die einzige Ausnahme war Rob gewesen. Doch das lag schon lange zurück und letztendlich war nicht mehr als ein Trunkenheitsquickie dabei herausgekommen. Von Marianna war er zwar ziemlich beeindruckt, aber dennoch sah er in ihr wenig mehr als eine mögliche Eintrittskarte in die Welt der Hitparade. Mit Liebe, was immer man darunter verstehen mochte, hatten seine Affären herzlich wenig zu tun. Er wollte nicht lieben und auch nicht geliebt werden, das brachte nur Ärger. Und Ärger hatte man so schon genug. Lust & Vergnügen, das war seine Maßgabe.

Es war erst zwei Uhr und noch viel zu früh für seine Verabredung mit Nicole, aber er hielt es zu Hause nicht mehr länger aus. Ein Spaziergang konnte auf keinen Fall schaden und es schien ihm eine gute Gelegenheit, die brachliegende Statistik zu vervollständigen. Alexander sollte keinen Grund zur Klage haben, wenn er aus seinen Ferien zurückkam. Außerdem wollte er auf jeden Fall pünktlich sein. Vielleicht streikte ja ausgerechnet heute der öffentliche Nahverkehr oder eine Naturkatastrophe hinderte ihn am Vorwärtskommen.
Eine alte Villa weckte im Vorübergehn seine Aufmerksamkeit. Er blieb verdutzt stehen und ging sogar ein paar Schritte zurück. Irgendwie kam ihm das Haus bekannt vor. Er überlegte: vielleicht ein Bild in einer Zeitung? An sich war es eine ganz normale Villa, mit zwei Balkonen im ersten Stock und ansprechend bepflanzten Blumenkästen, einer großen Terrasse mit Hollywood-Schaukel, kleinen Türmchen, Erkern, hohen Fenstern, efeuberankten Außenmauern und spitzen Dachgiebeln. Sie befand sich inmitten einer, wenn auch kleinen, parkähnlichen Gartenanlage. Es gab Blumenbeete und Bäume und sogar einen Miniaturpavillon. Das Ganze war umschlossen von einem schmiedeeisernen Zaun, der weitgehend von allerhand Grünzeug überwuchert war. In einer anderen Wohngegend wäre daran nichts Ungewöhnliches gewesen, aber an dieser Stelle fielen Haus und Garten aus dem Rahmen. Die Villa unterbrach die Front mehrstöckiger Mietshäuser, die dicht an dicht standen: links und rechts und auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der zugewachsene Zaun schützte vor neugierigen Blicken. Man musste schon dicht an das rosenüberkränzte Gartentor herantreten, so wie Vince es getan hatte, um hineinsehen zu können. Wer da wohl wohnen mochte? Schlagartig fiel es ihm ein: Einmal hatte er Su und Marco hier aussteigen lassen. Su und Marco in diesem Haus? Das konnte doch nicht sein! Nun, vielleicht wohnten sie im Keller oder hatten möblierte Zimmer unter dem Dach. Kurz entschlossen öffnete er die leicht angerostete Gartentür. Er fühlte sich ziemlich unbehaglich, als er durch das Tor trat, und das nicht nur wegen der Rosenranken, die ihn beim Hineingehen wie zufällig streiften.
Eine Klingel gab es nicht, auch kein Namensschild. Lediglich die Worte "Villa Arco Azul" prangten über dem altmodischen Türklopfer. Er betätigte ihn mit gemischten Gefühlen, halb belustig, halb andächtig. Die Tür sprang auf, so schnell, dass er erschrocken zurückzuckte. Der kleine Schreck hielt nicht lange vor. Forsch öffnete er die Tür vollends. Neugierig um sich spähend betrat er den Flur. Es gab vier Türen, zwei rechts, zwei links. Die erste links stand weit offen und gewährte einen guten Blick in eine sehr unordentliche Küche. Die andere war unter der Treppe, dort ging es vermutlich in den Keller. Die beiden Türen auf der rechten Seite waren halb geöffnet. Von den beiden Türen auf der rechten Seite war die hintere geschlossen. Er meinte, Stimmen zu hören und ging durch die geöffnete Tür in das dahinterliegende Zimmer im Glauben, dort jemanden vorzufinden.
Der große Raum war spärlich möbliert. Halb zugezogene, bodenlange Gardinen hingen vor den hohen Fenstern und bewegten sich sacht im Luftzug. Ein großer Teppich in der Mitte, ein niedriger Tisch, drumherum ein paar Kissen. Die Kissen waren so weiß wie der Teppich schwarz war. Der Gegensatz zwischen der asketischen Reinlichkeit dieses Raumes und der Küche hätte nicht größer sein können.
Spätestens jetzt wäre es an der Zeit gewesen, sich bemerkbar zu machen, oder wenigstens zu gehen. Vince tat weder das eine noch das andere. Er zog lediglich die Jacke aus, weil ihm plötzlich zu warm war und ließ sie auf den peinlich sauberen Fußboden gleiten. Man hätte meinen können, sie müsse wie ein Fremdkörper wirken, aber sie lag da, als hätte sie schon immer da gelegen, als gehöre sie schon immer dazu, als sei dies der einzig richtige Ort auf der ganzen Welt, um eine abgewetzte Lederjacke hinzulegen. Vince machte sich darüber keine unnötigen Gedanken. Er spazierte zum Fenster und sah hinaus, bevor er die beiden Flügel der Durchgangstür vollständig öffnete. Das dahinterliegende Zimmer war ähnlich weitläufig, aber noch spärlicher möbliert. Ein großer Spiegel und eine dunkle Holztruhe waren die einzigen Möbelstücke. Der Spiegel war halb bedeckt von weißem, duftigem Tüll. Er zog seinem Spiegelbild eine Grimasse und öffnete die Tür zum Flur und betrat diesen wieder. Einen momentlang dachte er darüber nach, die Treppe hochzugehen, wollte dann aber seine Unhöflichkeit nicht noch vergrößern. Er ging einen Schritt auf die Haustür zu, er sollte jetzt wirklich gehen, als er wie angewurzelt stehen blieb. Die Türen auf dieser Seite waren vielleicht fünf Meter auseinander. Jedoch auf der anderen Seite der Wand waren die beiden Türen weiter voneinander entfernt gewesen. Viel weiter sogar! Er kam aber nicht dazu, länger über diesen merkwürdigen Umstand nachzugrübeln, denn ein unbestimmbares Raunen hinter seinem Rücken veranlasste ihn, sich umzudrehen. Die schwarze Truhe aus der gegenüberliegenden Zimmerecke war in dem mannshohen Spiegel deutlich zu sehen. Vince starrte wie gebannt auf dessen glänzende Oberfläche, als sich diese mit einem Schlag wellenförmig kräuselte und das Spiegelbild der Truhe verschluckte. Vince nutzte einen lichten Moment und überzeugte sich mit einem hastigen Kopfdrehen davon, dass die Truhe noch in der Zimmerecke stand. Der kunstfertig um den Spiegel drapierte Tüll bewegte sich so heftig, als zerre eine mittelstarke Sturmböe an dem feinen Stoff, und er hatte das unangenehme Gefühl, von unsichtbaren Augen eindringlich gemustert zu werden. Irritiert drehte er sich einmal um sich selbst und hielt sich dann am Türrahmen fest. Das gab es doch nicht! Im Spiegel tanzten blaue Wolken. Und mit einem Mal schoss eine Gestalt aus diesen Wolken hervor und dann noch eine. Beide klebten bewegungslos und plattgedrückt hinter der Spiegeloberfläche, während im Hintergrund die blauen Wolken unaufhörlich wogten. Ein außergewöhnlicher Bildschirm, ein außergewöhnlicher Videoclip, darin war sich Vince ganz sicher. Hörte er nicht ergreifende Musik? Die beiden Gestalten waren eingehüllt in phantastische Gewänder aus schimmerndem Gold. Intensive Farbmuster blitzten auf und stachen ihm in die Augen. Von den Gesichtern konnte er nichts erkennen. Sie waren verborgen hinter goldenen, schmucklosen Masken, aus deren Schlitzen die Augen mit makabrer Lebendigkeit herausstachen.

Etwas polterte hinter Vince. Er wurde bleich und drehte sich blitzschnell um. Eine schwarze Katze sprang fauchend die Treppe herab. Eine Katze! Das Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Erleichterung war unendlich groß. Viel zu groß eigentlich, gemessen an den Umständen, was ihm aber in diesem Augenblick nicht auffiel. Die kleine Katze beruhigte sich schnell und strich im nächsten Moment Su um die Beine, die, ein Tablett in der Hand, lächelnd aus der Küche kam.
"Hallo Vince! Schön, dass du da bist, wir haben uns ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich freue mich, dich zu sehen!"
Vince nickte zur Begrüßung verdattert mit dem Kopf und erwiderte automatisch ihr strahlendes Lächeln. So kannte er Su gar nicht, so offensichtlich gutgelaunt und so offensichtlich angetan von seinem Besuch. Was mochte das bedeuten? Im Allgemeinen war sie ihm gegenüber recht zurückhaltend und hatte ihn zu Beginn ihrer Bekanntschaft mehr als einmal harsch abblitzen lassen.
"Wie du siehst, mussten wir unsere Reisepläne verschieben. Aber hier kann man es ganz gut aushalten. Ich hatte dich schon letzte Woche erwartet. Aber nun bist du da, gerade rechtzeitig zum Tee. Das freut mich. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen!"
Hätte sie das Tablett nicht in der Hand gehabt, sie hätte ihn umarmt und geküsst. Dessen war sich Vince in diesem Augenblick hundertprozentig sicher; alles sprach dafür. Doch leider ... Ein fröhliches "Komm doch herein und setz dich!" war alles, was Vince bekam. Er war völlig baff und folgte ihr wortlos.
Marco saß mit gekreuzten Beinen auf einem der Kissen und steckte sich gerade eine Zigarette an. Su verteilte anmutig das Teegeschirr auf dem Tisch, schenkte ein und vergaß auch die Katze nicht.
"Hi Alter, lange nicht gesehen!" begrüßte ihn Marco. "Setz dich, Vince. Wir haben auf dich gewartet. Der Tee ist heiß und die Plätzchen frisch. Das Beste, was einem an so einem Tag passieren kann."
"Wie?" berappelte sich Vince endlich. "Ihr habt auf mich gewartet? Hallo, übrigens. Waren wir verabredet? Ich bin doch ganz zufällig hier vorbeigekommen. Ich wollte euch gar nicht besuchen!"
"Nun, Vince, es ist Donnerstag," antwortete Su und warf ihm einen bedeutsamen Blick zu, den er nicht wirklich zu deuten wagte. Es war ein Blick, der ihm ein Flattern im Bauch verursachte. "Wir treffen uns doch immer an einem Donnerstag! Warum nicht auch heute?"
"Ja, warum nicht auch heute?" wiederholte Vince mechanisch, aber keinesfalls beruhigt. Er nippte an seinem Tee. Sehr heiß! Die Katze strich einmal maunzend um ihn herum und schnappte sich den Keks, den er zwischen den Fingern hielt.
"Sie ist ein ungezogenes kleines Biest," entschuldigte sich Marco lachend, packte sie am Genick, zog sie von Vince weg und ließ sie nicht mehr los. "Ich hoffe, du gehörst nicht zu den Leuten, die unter Katzenallergie leiden."
"Nee, nee, ich bin rundum gesund", beeilte sich Vince zu versichern und nahm sich einen anderen Keks. Es waren ja genug da. "Ich wusste gar nicht, dass ihr so feudal wohnt. Das muss doch irre teuer sein ..."
"Gehört Marcos Onkel," antwortete Su fast zu schnell und irgendwie entschuldigend. "Wir könnten uns sowas nicht leisten und wie du siehst (sie machte mit beiden Armen eine ausholende Bewegung und lachte verführerisch) ist unsere Einrichtung eher dürftig. Wenn du willst, kannst du dir das obere Stockwerk auch ansehen. Dort sind die Zimmer gemütlicher eingerichtet. (Sie zwinkerte Vince zu.) Hier unten halten wir uns selten auf; eigentlich nur, wenn wir Besuch haben." Vince fühlte sich angesichts ihrer Offensive in Marcos Gegenwart zunehmend unbehaglicher.
Su war aufmerksam um ihn besorgt und ließ keine Gelegenheit aus, ihm die Schale mit den Plätzchen hinzuhalten oder frischen Tee einzugießen, nicht ohne ihn dabei wie zufällig zu berühren. Vince versuchte, sich nichts dabei zu denken, sondern war bemüht, sich so zu verhalten, als wäre alles wie immer. Fast wie immer. An dem Gespräch, dessen Führung Marco übernommen hatte und das sich um Musik und die Band handelte, beteiligte er sich ausnahmsweise recht einsilbig. Die Aufmerksamkeit, mit der Su ihn überhäufte, verwirrte ihn zwar, tat ihm aber sehr gut.
Es war Marco, der nach einer Weile die Teegesellschaft kommentarlos auflöste. Er räumte die Tassen auf das Tablett, ohne Rücksicht darauf, dass diese noch halb voll waren, blies die Kerze aus und schickte die Katze fort. Vince begriff: Zeit zu gehen!
In diesem Moment durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Er hatte es zwar schon die ganze Zeit gesehen, es aber nicht wahrhaben wollen. Sowohl Su als auch Marco trugen ein breites, goldenes Armband um den Oberarm. In das Armband eingelassen war ein rautenförmiger, rubinroter Stein, unter dessen Oberfläche goldene Sprenkel einen widernatürlichen Tanz vollführten. Es sah aus, als lebe dieses Ding. Sein Magen rebellierte bei diesem Anblick. Er kniff fest die Augen zusammen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, war die Erinnerung an einen anderen solchen Stein vergessen.
"Vielen Dank für den Tee, er war köstlich und die Plätzchen auch! (Su sah er sicherheitshalber nicht an.) Ich muss los. Es ist schon so spät und ich muss früh raus." Vor dem rosenumkränzten Gartentor drehte er sich nochmal um und winkte den beiden zu, die nebeneinander vor der Haustür standen. "Tschüss zusammen, bis zum nächsten Mal."

Ungefähr zur gleichen Zeit pfefferte Nicole wutentbrannt eine komplette Sahnetorte nebst den dazugehörigen Geburtstagskerzen in die Mülltonne. Nie wieder, schwor sie sich, nie wieder!

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