Kapitel 13

Der Kaiser hob seine Hand und augenblicklich erschien der riesige Nebelkrake. Er wickelte sie in seine klauenbewehrten Fangarme und wirbelte mit ihr davon. Von irgendwo hoch oben sah sie den Kaiser, ihren Vater, der mit unbewegtem Gesicht zusah. Er hatte gewonnen. Er hatte sie besiegt. Sein Triumph flatterte wie ein windbewegter Umhang um seine Gestalt. Grausam bis zum bitteren Ende, hatte er eine ihrer eigenen Kreaturen zu seinem Werkzeug auserkoren. Ausgerechnet ein Nebelkrake würde sie in die Verbannung tragen. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihn von seinem Tun abzubringen; war der Krake erst einmal eingestimmt, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Sie schrie vor Zorn und Empörung, vor Wut und Schmerz und schwor Rache. Irgendwann! Irgendwann würde sie zurückkehren! Sie hatte den Kampf zwar verloren, doch geschlagen gab sie sich nicht. Niemals! Während der Nebelkrake mit der ihm eigenen Umsicht seine nachtschwarzen Schwingen ausbreitete und sich darauf vorbereitete, in eine andere Dimension zu wechseln, rief sie den Orch'id.
"Warte auf mich! Hüte den Turm! Ich werde zurückkommen. Ruf mich, sobald das geflügelte Einhorn am Himmel steht."
Der Orch'id verneigte sich ergeben. Er war sich sicher, dass er sehr lange würde warten müssen. Nur zu gut kannte er die hinterlistigen Grausamkeiten, mit denen der Kaiser seine Feinde zu bestrafen pflegte. Er sollte recht behalten!
Sie vergaß ihren Namen, ihre Herkunft und das Geheimnis der blauen Flamme, als der Nebelkrake über einer fremdartigen Welt die Klauen öffnete. Ihr Fall wurde begleitet von grellen Blitzen und lauten Donnerschlägen. Sie fiel und fiel und fiel. Sie veränderte sich und passte sich an. Als sie auf dem Boden aufkam unterschied sie sich in nichts mehr von den merkwürdigen Wesen, die diese Welt bevölkerten.
Ein Wagen hielt an und ein Mann stieg aus. Er war das makabre Abschiedsgeschenk des Kaisers. Es war Karl-Heinz.

Sie erwachte schweißgebadet und wie immer von ihrem eigenen, tonlosen Schrei. Und wie immer, war dieses Erwachen begleitet von dem Gefühl eines unendlichen Verlustes. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, während sie das klamme Nachthemd wechselte und die Bettdecke umdrehte, was um Himmels Willen sie dazu trieb, immer wieder diesen Traum zu träumen. Es war entsetzlich!
Elisabeth Grünberg öffnete die Balkontür, trat hinaus, sog die frische Nachtluft ein und sah nachdenklich hinauf zu den Sternen. Sie waren so weit weg. Selbstvergessen funkelten sie am Himmel, völlig unbeeindruckt von den Sorgen, die ein irdisches Dasein mit sich brachte.
Da war ihr Sohn, mit einem Mal erwachsen geworden und ihr fremder als jemals zuvor.
Da war ihre Schwägerin, die ihr völlig unerwartet enthüllt hatte, dass ihre Ehe unrettbar zerbrochen war. Elisabeth hatte nach allem, was sie darüber erfahren hatte, ihre Mühe gehabt, Hugo unbefangen gegenüberzutreten.
Da war sie selbst: eine duldsame Ehefrau, penible Hausfrau und besorgte Mutter. Sie erfüllte getreulich ihre Pflichten und vermied es, über sich und ihr Leben nachzudenken. Es führte doch zu nichts und hätte sie bestimmt nicht glücklicher gemacht. Sie wollte nicht klagen über das Leben an der Seite von Karl-Heinz. Er war ein guter Mann, auch wenn sie sich nicht viel zu sagen hatten. Es war schon immer so gewesen und sie vermisste nichts.

Fröstelnd schlang sie die Arme eng um sich. Da! Eine Sternschuppe löste sich vom Himmel. Eine Sternschnuppe mit blauem Schweif, die eine scheue Fröhlichkeit in ihrem Herzen zum Erklingen brachte und ihre Seele befreite. Sie hatte seltsamerweise den Eindruck, dass diese ihr aufmunternd zublinzelte. Sie beließ es dabei, dieses Geschenk anzunehmen und nicht weiter darüber nachzudenken. Allein die Angst um Alexander blieb hartnäckig und ließ sich nicht besänftigen. Sie ging hinein, schloss sachte Tür und Vorhänge und betrachtete mit mütterlicher Zärtlichkeit ihren Mann, der leise schnarchte. Auch er war alt geworden. Es gab nichts, woran er Schuld gehabt hätte. Auch er war enttäuscht und um seine Träume betrogen worden.

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