Kapitel 2

Es war einmal eine Insel, dort stand ein prächtiger Palast aus weißem Licht, darinnen wohnte eine junge Frau ganz allein, das war die Königin. Sie hieß Valin und sie war Herrin und Beschützerin unzähliger Lichtelfen, die den lieben langen Tag nichts anderes taten, als zu singen und zu tanzen vor lauter Vergnügen.
Da fiel eines Tages ein dunkler Engel mit gewaltigen Flügeln vom Firmament herab. Lange Zeit stad er ganz ruhig da, einzig seine gewaltigen Flügel klappten dann und wann auf und zu. Er sah hierhin und dorthin und dann ging alles sehr schnell. Aus schwarzen Steinen, die er von weit her holte, errichtete er unweit des Lichtpalastes einen gigantischen Turm und drumherum eine hohe Mauer. Seine fremde Magie ließ alles Grün im Umkreis verdorren. Ein kleiner Fluss, den er mit einem Fingerschnippen umgeleitet hatte, stank bestialisch. Dies alles geschah von einem Moment zum anderen, ohne dass die Königin es hätte verhindern können. Seither sickerten ohne Unterlass zerstörerische Kräfte aus unzähligen Mauerritzen und verrichteten ihr unseliges Werk. Langsam aber stetig vergrößerte sich die Ödnis rund um die schwarze Burg. Irgendwann würde alles verdorrt sein.
"Niemals! Niemals darf so etwas geschehen! Ich werde einen Weg finden, dies zu verhindern!" flüsterte die Königin inbrünstig dem lauen Sommerwind zu, der ungerührt durch den Palast strich und die durchscheinenden Wände zum Singen brachte. In ihrer Not befragte sie sogar die Sterne und erfuhr mehr, als sie hätte wissen wollen. Ein Edelstein bestimmte über die Wege des Engels, er hatte ihn hergeführt und würde ihn auch wieder fortführen; so lautete die Botschaft. Der Stein musste fort; so lautete die Aufgabe. Gänzlich unerfahren in diesen Dingen, entwickelte sie dennoch einen Plan und schickte schließlich drei ihrer Untertanen los, den Stein zu stehlen.
Doch sie scheiterten. Zwei von ihnen tötete der dunkle Engel sofort und die dritte, Malfé war ihr Name, hielt er seither gefangen. Sie war die Wagemutigste unter allen Lichtelfen und andernorts wäre sie sicher eine große Kriegerin gewesen. Ihr gelang es sogar, so nahe an den Engel heranzukommen, dass sie den Stein, den er an einer Kette um den Hals trug, berühren konnte. Doch im selben Moment schrie sie auf vor Pein, denn er brannte wie Feuer. Makabrerweise machte erst ihr Schrei den Engel auf sie aufmerksam. Er sah sie so beiläufig an, als krabble ein lästiges Insekt über seinen Ärmel, doch sie ließ dieser Blick alles vergessen, denn er traf mitten in ihr Herz. Den Engel indes kümmerte dies nicht. Er legte sie in Ketten und sperrte sie in ein finsteres Verlies.

Die Königin rief ein zweites Mal nach den Sternen. Der Engel musste sterben, so lautete die schreckliche Aufgabe. Doch wer sollte so etwas tun? Sie selbst war außerstande, zu töten und die Lichtelfen schon gar nicht. Dies war eine Aufgabe für einen kampferprobten Ritter! Dieser Ritter würde ein besonderes Pferd brauchen und ein besonderes Schwert. Also erschuf sie beides indem sie den Stoff aus dem der Lichtpalast bestand, verwandelte. Mit Freuden wollte sie auf die Annehmlichkeiten des Palastes verzichten, solange ihr Reich in Gefahr schwebte. Das Schlachtross war kräftig und ausdauernd und kannte den Weg, und das Schwert würde wissen was zu tun war, wenn es dem Feind gegenüberstand.
Der Engel ahnte von alledem nichts und selbst wenn, es hätte ihn nicht gekümmert. Was sollten diese kraftlosen Wesen ihm auch anhaben wollen? Selbstherrlich residierte er in seinem Turm, vollauf damit beschäftigt, nach seinesgleichen Ausschau zu halten. Eines Nachts war es dann so weit: sein Bruder griff an und nur knapp gewann er den Kampf. Sein Entsetzen hätte nicht größer sein können, als er Tags drauf feststellte, dass es ihm unmöglich geworden war, die Burg zu verlassen. Der Kampf hatte ihn restlos ausgelaugt. Da widmete er den Wesen, die diese Insel bevölkerten, zum ersten Mal seine volle Aufmerksamkeit. Er stieß einen triumphierenden Schrei aus als er erkannte, dass er sich nur die merkwürdig geisterhafte Magie der Königin einzuverleiben brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Sofort machte er sich auf den Weg, grimmig und fluchend, denn er musste sie eigenhändig holen; selbst für den einfachsten Rufzauber war er zu schwach.
Die Königin hatte gespürt, wonach er trachtet und erwartete ihn schon. Er bestand darauf, sie mit Eisen anzuketten wie einen Hund, und sie ließ es geschehen, obwohl sie in jedem Fall mit ihm gegangen wäre. Die Ketten brannten wie Feuer an ihren Handgelenken, doch sie ließ sich nichts anmerken, ganz wie es sich für eine Königin geziemte, und ging aufrecht vor ihm her. Er zerrte an den Ketten, brachte sie mehrmals zum Stolpern und stieß ein gehässiges Lachen aus, als ihre Handgelenke zu bluten begannen.
Angelockt durch diese Ungeheuerlichkeit, sahen die Lichtelfen in fassungsloser Ohnmacht zu, wie ihre Königin hinter der Mauer aus schwarzen Steinen verschwand. Sie wisperten aufgeregt und drängten sich ängstlich aneinander.
"Helft mir!" flehte die Königin stumm und unsinnigerweise, wusste sie doch nur zu genau, dass sie es nicht vermochten.
"Von Euren Untertanen braucht Ihr nichts zu erhoffen," höhnte wie zur Bestätigung der Engel. "In denkbar kürzester Zeit werden sie Euch vergessen haben und einem neuen König huldigen. Nichts mehr wird sie an Euch erinnern. Ihr gehört jetzt mir."

Erschaudernd trat Valin durch das Tor in das Innere des monströsen Bauwerks. Ein waberndes Etwas, angefüllt von wild tanzenden Schattenteufeln verband die Turmspitze mit der Ringmauer. Hier gab es keinen Himmel, keine Sterne, keinen Sonnenschein. Unversehens hieb ihr der Engel die Faust in die Seite und sie fiel und fiel, unendlich lange, und verlor das Bewusstsein.
In einem muffigen Verlies kam sie zu sich. Schwach leuchtende Würmer wuselten wie besessen an den feuchten Wänden herum. Sie verbreiteten gerade genug Licht, um die Finsternis des Verlieses ein wenig zu mildern. Und da sah sie Malfé, die ihr gegenüber, ebenso wie sie, eng an die Wand gekettet war.
"Malfé!" rief Valin. "Malfé, geliebte Schwester, was ist nur mit Dir geschehen? Was hat der Stein Dir angetan? Was hat der schwarze Engel Dir angetan? Malfé! Erinnere Dich!" Malfé antwortete nicht. Sie war versunken in ihren dunklen Träume die verhinderten, dass Valin in ihre Seele eintauchen konnte.

Unterdessen bereitete der Engel ein barbarisches Ritual vor, das von seinem Volk schon vor undenklichen Zeiten geächtet worden und längst in Vergessenheit geraten war. Valin spürte, wie etwas unbegreiflich Grässliches sich ausbreitete, dichter und dichter wurde und allmählich näherkroch. Was hatte der Engel mit ihr vor? Wo blieb der Ritter? Sie zwang sich, das Grauen wegzuschieben und nur noch an den Ritter zu denken. Er musste einfach kommen. Gab es überhaupt noch Ritter? Sie wusste so wenig von der Welt der Menschen. Da spürte sie, wie in ihrem Herzen die Sonne aufging. Ritter und Schwert waren angekommen. Der Ritter trat durch die Ringmauer gerade in dem Augenblick, als zwei widerliche Kreaturen erschienen, um Valin zu holen.

Unruhig brennende Fackeln spuckten wabernde Schattenteufel an die Decke, doch Helligkeit spendeten sie nicht. Der Engel brauchte kein Licht. Die Dunkelheit war seine Verbündete. Unverhüllte Gier gloste in seinen pupillenlosen Augen, als Valin vor ihm stand.
"Ihr seid viel zu schön zum Sterben. Es ist wahrhaftig ein Elend, dass ich Euch das Leben nehmen muss." Seine Stimme klang sanft, doch sie troff vor Hohn. "Euer Volk hat Euch schon vergessen. Jetzt seid Ihr mein. Hofft nicht auf Rettung, denn wer weiß schon von Euch?" Er packte sie, stieß sie brutal auf einen Steinquader und rammte Eisenpfähle durch die Glieder ihrer Fesseln. "Meine Kräfte sind fast verschwunden, doch Euer Tod wird sie mir wiedergeben. Ihr seht also, ich brauche Euch!" Es schien, als lasse schon allein ihre Angst ihn wachsen.
Valin schloss die Augen. Sie musste das Entsetzen verdrängen, durfte nicht daran denken. Wo blieb der Ritter? Er hätte längst da sein müssen. Sie schrie auf, als sie ihn entdeckte: Gefangener einer unguten Stille stand er herum und träumte von wilden Monstern und holden Jungfrauen.
"Mein Ritter!" flehte sie stumm und voller Inbrunst. "Eilt Euch! Jetzt ist keine Zeit für Geschichten! Wacht auf!"
Da erinnerte sich der Ritter seiner Aufgabe, überließ sich wieder der Führung seines Schwertes und trat forschen Schrittes in die Halle. Der Engel, vollauf in seinen schaurigen Gesang versunken, bemerkte den Eindringlich nicht.

Das Schwert sprang dem Ritter fast aus der Hand, wirbelte auf und ab und zog ihn hinter sich her. Ein einziger Schlag spaltete den grotesken Körper des Engels in zwei Hälften. Hart knallte die Schwertspitze auf den Boden und lag danach so ruhig in der Hand des Ritters, als wäre nichts geschehen. Die Ketten an Valins Handgelenken zerfielen zu Staub. Sie war frei.
"Nein! Berührt ihn nicht!" rief Valin erschrocken als sie sah, dass Ritter die Hand nach einem giftrot glühenden Stein ausstreckte, der in den Falten des abartigen Gewandes des toten Engels unheilvoll pulsierte. "Er ist die Wurzel allen Übels. Er ist nicht für Euch bestimmt. Er würde Euch nur Unheil bringen!"
"Keine Angst", sagte dieser beruhigend. "Keine Angst, es ist vorbei."
Valin lächelte den Ritter an, ein wenig erheitert  über seine Fürsorglichkeit und den heiligen Ernst in seinem Blick. Doch das hatte Zeit. Malfé war immer noch im Verlies. Waren ihre Fesseln auch verschwunden? Hatte sich der unselige Bann gelöst, der sie in etwas anderes verwandelt hatte? Würde Malfé wieder bei Sinnen sein? Als ein gellender Schrei durch die Halle tobte, wusste sie, dass Malfé verloren war. Wie von Sinnen weinte um den Einen, dem sie so gleichgültig gewesen war. Gefangen in Ketten, von denen nur er sie hätte befreien können, fluchte und tobte sie und sann auf Rache.

"Wir müssen fort! Schnell!" mahnte der Ritter. Draußen begrüßte sie ein wolkenloser Sternenhimmel und Valin kamen fast die Tränen vor Erleichterung. Es war vorbei. Fast! Sie stolperte, doch der Ritter zerrte sie energisch weiter; für einen verlorenen Schuh war jetzt keine Zeit, das sah sie ein. Hinter ihnen fiel der Turm bereits lautlos in sich zusammen. Allerhöchste Eile war geboten, wenn sie nicht in unaussprechlichen Dimensionen verschwinden wollten. Sie preschten weiter. Erst als sie den Streifen zerstörter Natur hinter sich gelassen hatten, blieben sie stehen und drehten sich um. Die Zugbrücke schwebte kreischend hoch, während sich gleichzeitig die dunkle Mauer zu flirrendem Staub auflöste, bis letztendlich die Brücke allein in der Luft hing. Das quietschende Geräusch hing noch unangenehm in der Luft, als mit einem dumpfen "plopp" alles verschwand.

Valin blickte milde lächelnd zu ihrem Retter auf, der verzückt ihre Hand hielt.
"Mein Retter! Mein Dank ist Euch gewiss. Ihr habt die Bedrohung, die von diesem unseligen Ort ausging, gebannt. Dank Euch können wir wieder in Frieden leben." Anmutig verbeugte sie sich vor dem Ritter. "Ihr habt einen Wunsch frei, nennt mir ..." Die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Malfé an, die dort erschien, wo eben noch das Schloss gewesen war. Eingerahmt von verdorrtem Gestrüpp stand sie dort und pure Verzweiflung brannte in ihren Augen. Mit einer Langsamkeit, die von großer Anstrengung kündete, hob sie beide Arme in die Höhe. Die Ketten an ihren Handgelenken hatten zwar an Konsistenz verloren, doch aufgelöst hatten sie sich nicht.
"D'Arav! Warum? D'Arav! Komm zurück!" heulte Malfé verzweifelt. Sein Name, den nur sie gekannt hatte, war das einzige, was ihr geblieben war. Den Schmerz, der in ihr pochte, hatte sie allein der Königin zu verdanken. Sie hatte den Engel getötet, sie allein trug die Schuld. Glühender Hass verzerrte ihr Gesicht und sie lachte hämisch, als sie einen bösen Wunsch tat und das durch Edelmut gezähmte Begehren des Ritters übermächtig werden ließ.
"Ihr habt die Königin gerettet! Ihr habt einen Wunsch frei!" flüsterte sie ihm beschwörend zu. "Küsst sie! Küsst sie! Küsst die Königin!"
Valin vernahm Malfés Einflüsterungen und erschrak. Würde der Ritter dem glühenden Verlangen nachgeben, das diese in ihm geweckt hatte? Würde alles umsonst gewesen sein?

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