Kapitel 1

Ein Düsenjäger durchstieß die Schallmauer und vertrieb mit lautem Getöse eine wunderschöne Prinzessin und holte einen tapferen Ritter unsanft in die Wirklichkeit zurück. Orientierungslos starrte Alexander Grünberg auf die alte Kastanie vor seinem Fenster, deren noch kahle Äste sich langsam im Wind bewegten. Ein Hund bellte, eine Autotür schlug zu und ein schwarzer Vogel ließ sich kreischend im Geäst des Baumes nieder. Der Drache war tot, die Prinzessin gerettet und er um einen Kuss, der sein Lohn hätte sein sollen, betrogen. Er seufzte tief vor geheucheltem Selbstmitleid und begann, bestimmt zum fünften Mal, sich durch einen unsäglich unverständlichen und unsäglich langweiligen Aufsatz zu quälen. Professor Hoffmann überflutete seine Studenten geradezu mit derartigen Traktaten und erwartete selbstverständlich, dass alle gelesen wurden. Es gab nichts Schlimmeres als Musiktheorie bei Professor Hoffmann.
Trotz bester Vorsätze dauerte es nicht lange, bis er wieder aus dem Fenster starrte und mit dem blauen Anhänger seiner Halskette spielte. Entnervt legte er Professor Hoffmanns Machwerk zur Seite und sah sich nach Interessanterem um. Da blieb sein Blick an dem alten Teddy hängen; ein treuer Freund aus Kindertagen, der sauber und gepflegt oben auf dem Kleiderschrank saß und ihn mit großen Knopfaugen beobachte. Er stellte verblüfft fest, dass seine Mutter offensichtlich sehr viel mehr als nur den alten Bären zurechtrückte und abstaubte. Alle seine Bücher waren fein säuberlich im Regal aufgereiht. Über alledem schwebte ein Modellflugzeug, das er vor vielen Jahren einmal gebastelt hatte; es war immer noch unvollendet. Ganz unten hatte die Mutter Aktenordner und sein Fotoalbum untergebracht. Auch den Kleiderschrank hielt sie in Ordnung. Nur die Notenblätter, Notizzettel und Musikzeitschriften, die überall herumlagen, schien sie nicht in den Griff zu bekommen. Wenn dies nicht gewesen wäre, es hätte das Zimmer von irgendjemand sein können. Alexander nahm seine Umgebung selten so genau wahr. Für ihn war sie nichts weiter als ein bedeutungsloser grauer Schatten. Er lebte nur für seine Träume und seine Musik. Unversehens fühlte er sich fremd und gefangen in seinem kleinen Zimmer, in dem er so viel Zeit verbrachte. Er fühlte sich mit einem Mal niedergedrückt von der museumsartigen Atmosphäre, die seine Mutter geschaffen hatte. Da setzte er sich ans Klavier und ließ seine Finger eine Weile über die Tasten rasen, bevor er mit einer endgültigen Geste den Deckel zuklappte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. "Ach wie gut, dass niemand weiß ..." fügte er geistesabwesend mit einem gewissen Anflug von Selbstironie hinzu und ließ sich betont schwungvoll auf sein Bett fallen, das davon bedenklich knarrte und quietschte. Sein Zimmer befand sich im obersten Stockwerk eines Reihenhauses. Beinahe sein ganzes Leben hatte er hier verbracht. Zuerst hatte sein zwölf  Jahre älterer Bruder hier gewohnt, und als dieser heiratete, hatte Alexander das Zimmer samt Einrichtung übernommen. Hier war er ungestört und konnte sich ganz seinen abenteuerlichen Tagträumereien hingeben und dem Klavierspiel, seiner großen Leidenschaft.
 
Schon als Siebenjähriger hatte Alexander Grünberg mit seinem Können als eines der sogenannten Wunderkinder Furore gemacht und war mehrmals im Fernsehen aufgetreten. Eine länger dauernde Kinderkrankheit und ein singendes Wundermädchen beendeten diese Karriere. Seinen Eltern, denen künstlerische Ambitionen völlig fremd und deshalb unheimlich waren, bestaunten zwar ehrfürchtig sein Talent, setzten aber ihren ganzen Ehrgeiz daran, ihn etwas Ordentliches werden zu lassen. Für sie bedeutete das eine gründliche Ausbildung am städtischen Konservatorium. Er sollte später als Musiklehrer ein sicheres Einkommen haben und im Alter abgesichert sein. Noch beugte sich Alexander Grünberg folgsam den Wünschen seiner Eltern, obwohl er insgeheim immer größere Zweifel gegenüber ihren Vorstellungen von Glück und Sicherheit hegte. Seit er zum ersten Mal im Fernsehen ein Rock Konzert gesehen hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als ein bekannter Künstler zu werden, der unter donnerndem Applaus die Welt bereiste und ein abenteuerliches Leben führte. Eines schönen Tages hatte ein Zettel am Schwarzen Brett der Mensa seine Aufmerksamkeit gewonnen. "Band sucht dringend einen Keyboarder" hatte darauf gestanden. Er stellte sich vor, war aufgenommen worden und hatte seither kaum ein Treffen versäumt. Für den verschlossenen, etwas weltfremden Jungen, der seine Freizeit überwiegend nur mit Phantasiegestalten verbrachte, war dies eine überwältigende Erfahrung. Nach anfänglichen Schwierigkeiten kam er inzwischen mit den anderen Bandmitgliedern gut zurecht und hatte sich sogar mit einem von ihnen richtiggehend angefreundet.

Alexander sah auf die Uhr und sprang auf. Es war allerhöchste Zeit, Vince würde bald kommen! Er legte seine Brille auf den Schreibtisch und rieb sich die Augen. Er war nicht besonders auf sie angewiesen, nur zum Lesen brauchte er sie manchmal. Rasch ging er hinüber in das kleine Bad, das seinem Zimmer gegenüber lag. Er duschte schnell, rasierte sich und zog frische Sachen an. Aufgeregt dachte er dabei an die bevorstehende Party. Er war immer sehr befangen, wenn, was selten genug vorkam, solche Unternehmungen anstanden. Kontaktfreudigkeit war nicht gerade seine Stärke. Trotzdem, oder wahrscheinlich sogar gerade deswegen, faszinierte ihn das oberflächliche Treiben solcher Zusammenkünfte. Er beobachtete alle immer sehr genau und malte sich aus, was alles geschehen könnte. Jeder noch so zufälligen Begegnung maß er eine schicksalhafte Bedeutung zu. Dass er regelmäßig enttäuscht wurde, verdrängte er rigoros. Zappelig sprang er umher und fiel fast um bei dem Versuch, währenddessen die Turnschuhe zu binden.
Vince war da! Sein Motorrad war nicht zu überhören. Alexander öffnete schnell das Fenster und sah hinaus. Vince stand unten auf dem Bürgersteig und winkte herauf.
"Hey! Alles klar? Komm runter! Mach' schon!" brüllte Vince, der es offensichtlich eilig hatte. "Los, Mann! Beeil Dich!"
"Ich komme!" rief Alexander, schloss schwungvoll das Fenster, zog sich seine Jacke über und sprang die Treppen hinunter. Er streckte den Kopf durch die Wohnzimmertür. Die Eltern saßen vor dem Fernseher und verfolgten mit angespannter Aufmerksamkeit eine bekannte Quiz Sendung. Alexander schüttelte sich: wie konnte man nur eine derartige Unsäglichkeit ansehen?
"Also ..., ich geh' jetzt mal los, Vince ist eben gekommen, Ich komme heute nicht zum Abendessen, wir gehen auf eine Party!"
"So, Dein Freund hat Dich also abgeholt. Bringt er Dich wieder nach Hause? Ja? Wenn er was trinkt, nimmst Du ein Taxi. Und ... komm bitte vor Mitternacht. Ich mag es nicht, wenn Du so spät noch unterwegs bist. Es ist schon das zweite Mal in diesem Monat, dass Du mit ihm ausgehst. Früher warst Du abends nie weg. Ich glaube, dieser Vince hat keinen guten Einfluss auf Dich." Sie stupste ihren Mann in die Seite. "Findest Du nicht auch?" Alexander verdrehte die Augen und holte tief Luft! "Nun gut, dann geh mal! Ich wünsch' Dir viel Spaß! Und sei vorsichtig! Es gibt so viele schlechte Menschen. Auch auf Partys ist man vor ihnen nicht sicher ..."
"Mama! Bitte! Ich pass' schon auf!" murmelte Alexander schnell. Er wünschte sich inbrünstig, sie möge endlich aufhören, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln. Es war ziemlich lächerlich. Aber was hätte er tun sollen? Ungeduldig ließ er dennoch eine letzte Ermahnungsserie über sich ergehen und verschwand aufatmend nach draußen.
"Na!? Alles klar? Dann kann's ja losgehen!" Vince sah seinen Freund an und konnte nicht umhin, ihn einer kritischen Begutachtung zu unterziehen. "Wie siehst Du denn aus? Schätze, Du bist auch nur angezogen, damit Du nicht unbekleidet rumlaufen musst, was? Hast Du denn eigentlich nichts Vernünftiges anzuziehen, irgendetwas Nettes?"
"Wieso? Wir gehen doch nicht zu einem Staatsempfang oder was?" nuschelte Alexander verlegen, lief rot an und sah verunsichert zu Boden.
"Nun ja ... Hauptsache sauber, wie meine Großmutter immer zu sagen pflegte!" lenkte Vince ein und unterzog ihn nochmals einer betont strengen Musterung, wodurch er klarstellen wollte, dass seine Bemerkung nicht ganz so ernst gemeint war. Beide lachten, wenn auch etwas verkrampft. "Na ja, ich meinte ja auch nur ... Jedenfalls ... irgendwann solltest auch Du Deinen Eltern beibringen, dass man heutzutage mit der 'Hauptsache sauber Devise' nicht weit kommt. Ein bisschenEigenwerbung muss man schon betreiben und auf gute Verpackung achten ... Für die inneren Werte interessiert sich sowieso niemand!"
Vince's Bemerkung über seine Kleidung traf Alexander mehr als er wahrhaben wollte, denn er musste zugeben, dass Vince recht hatte. Seine Sachen waren zweifelsohne praktisch, solide gearbeitet und äußerst zweckdienlich. Sie wurden von seiner Mutter gekauft und von ihm ohne Überlegung wahllos kombiniert. Sein Spiegelbild interessierte ihn nicht; für ihn gab es dort nichts Aufregendes zu entdecken. Alexander gab nicht viel auf sein Aussehen, ganz im Gegensatz zu seinem Freund. Als er ihn jetzt so ansah konnte er sich des Eindruckes nicht erwehren, dass Vince in letzter Zeit zuviel Piratenfilme gesehen und eine entsprechende Requisitenkammer geplündert haben musste. Er schmunzelte ein wenig vor sich hin. Bei jedem anderen hätte es lächerlich gewirkt, doch zu Vince passte es perfekt. Er mimte gern den verwegenen Abenteurer: immer fröhlich und unverdrossen, doch nie zu fassen. Vince war groß und durchtrainiert und bewegte sich mit einer unvergleichlichen Lässigkeit, als wüsste er nicht, wie umwerfend er aussah. Seine grünen Augen blitzten überschwänglich, wenn er eine Frau sah, die ihm gefiel. Sein Lächeln, wenn auch manchmal etwas überheblich, hatte noch jede betört, denn bei alledem verrieten seine Augen, dass er es ehrlich meinte. Es war ein Lächeln, das Frauen schwach werden und Männer vor Neid erblassen ließ. Alexander, dem so ein Gefühl fern lag, mochte Vince aufrichtig gern. Obwohl Alexander, der Jüngere von beiden, neben Vince verblasste, hatte er damit kein Problem, solange Vince manchmal mit ihm ausging und ihm etwas von der Welt zeigte. Sein Schattendasein schien ihm ein angemessener Preis dafür zu sein. Er hatte keinesfalls die Absicht, dies zu ändern. Insgeheim war er ganz froh darüber, dass er jemanden hatte, dem er hinterherzotteln konnte. Er schätzte Vince's Talent als Musiker und bewunderte sein offenes Wesen und seinen ausschweifenden Lebensstil. Am meisten jedoch bewunderte er Vince's Fähigkeit, ihn zu Aktionen zu bewegen, die er alleine nie gewagt hätte. Obwohl er von Vince immer etwas gönnerhaft behandelt wurde, wusste er doch, dass Vince ihn richtig gern hatte und ihn verstand. Trotz seiner etwas oberflächlichen Art war er ihm ein sehr guter Freund, zu dem er mit all seinen Problemen kommen konnte und der ihn ernst nahm. Wie Vince einmal in einem Anfall umwerfender Klarsicht festgestellt hatte, verband sie mehr als eine dieser üblichen Männerfreundschaften, die lediglich von Stammtischprahlerei und Rivalität zusammengehalten wurden.
"Können wir jetzt los?" drängelte Vince und warf Alexander einen Sturzhelm zu. "Wir stehn jetzt schon lang genug hier herum und vertrödeln die Zeit. Ich muss noch was erledigen, bevor wir zur Party fahren."
Vince schwang sich auf's Motorrad, Alexander kletterte auf den Rücksitz, Vince ließ den Motor aufheulen und schon brausten sie los. Er war, wie sollte es auch anders sein, ein rasanter Fahrer. Alexander wusste nie genau, ob er sich fürchten oder die Fahrt genießen sollte.
Die Fahrt war bald zu Ende. Vince fuhr auf den Fußgängerweg, hielt direkt vor einer Kneipe und sprang vom Motorrad.
"Ich geh schnell vor! Warte drinnen auf mich! Ich bin gleich wieder zurück, muss nur kurz zu Rudi!" Er drückte Alexander seinen Helm in die Hand und machte die Tür auf.
Alexander war baff, aber nicht allzulange, denn er wurde abgelenkt durch etwas, was auf dem Boden lag. Er bückte sich, hob es auf und schmunzelte. In der Hand hielt er eine Miniaturausgabe eines mittelalterlichen Schlachtrosses. Es sah umwerfend echt aus. Ob Vince es verloren hatte?
"Vince! Warte! Schau mal, was ich gefunden habe ... Hast Du das vielleicht verloren?" fragte Alexander ohne zu bemerken, dass Vince es wirklich eilig zu haben schien. "Ist das nicht niedlich? Man könnte meinen, das Pferdchen würde einem gleich aus der Hand springen und davongaloppieren. Es ist viel schöner als die Figürchen, die man so kennt. Findest Du nicht auch?" Alexander war zu Vince herangekommen und hielt ihm die ausgestreckte Hand hin.
"Sag mal, was soll das denn? Ich hab jetzt keine Zeit für so Kram!" fragte Vince und betrachtete das kleine Ritterpferd stirnrunzelnd. Es erinnerte ihn an etwas, irgendwie an früher. Seine Eile war vergessen. "Mir gehört es nicht! Vielleicht ist es Dir ja aus der Tasche gefallen? Spielst Du mit sowas?
"Ach Quatsch, natürlich nicht", antwortete Alexander. "Ich spiele nicht mit sowas, jetzt doch nicht mehr, früher einmal, klar, aber das ist schon lange her. Da hatte ich eine Ritterburg, doch die Pferde sahen längst nicht so toll aus wie dieses da. Ich spiele doch nicht mit sowas, wofür hältst Du mich eigentlich? Ich kaufe sowas nicht und sammle es auch nicht." Alexander war ein wenig ärgerlich geworden. "Es lag neben dem Motorrad, neben Deinem Motorrad. Bist Du sicher, dass es nicht Dir gehört? Manchmal hast Du ja die merkwürdigsten Sachen bei Dir und beschäftigst Dich mit den merkwürdigsten Dingen, ist doch so, oder? Vielleicht bist Du ja unter die Ritter gegangen und hast unterm Bett eine Burg versteckt?" Alexander feixte, als er Vince's Gesicht sah und war froh, dass er Vince niemals erzählt hatte, womit er sich üblicherweise die Zeit vertrieb. Dafür hätte wahrscheinlich selbst Vince kein Verständnis. "Du kannst es Dir ins Regal stellen und Dir einbilden, dass es Glück bringt", beendete er laut seine Gedanken. "Du hast doch auch ..." Ein scharfer Blick von Vince ließ Alexander innehalten. "Ja! Ja! Ja! Ist ja schon gut, ich habe nichts gesagt."
"Ist schon ok. Ich wollte nicht ... Mir gehört das Teil jedenfalls nicht und ich will es auch nicht haben." Vince sah Alexander an und klopfte ihm auf die Schulter. "Ich wusste gar nicht, dass Du so eine Quasselstrippe sein kannst ... Dass mir das bloß nicht zur Gewohnheit wird ... Komm jetzt! Ich werde erwartet!"

"Du bist spät dran, Kumpel!" begrüßte sie ein dickbäuchiger Wirt, der ausstaffiert war wie ein Westernheld. "Sonst alles klar? Rudi ist hinten!"
Vince nickte und verschwand kommentarlos durch die Hintertür. Alexander sah ihm einen Moment lang nach und setzte sich an den einzigen Fenstertisch, so weit wie möglich weg von den stechenden Augen des Wirtes. Er war es gewöhnt, dass Vince ihn manchmal irgendwo abstellte und machte sich nichts draus. Er betrachtete eingehend die kleine Pferdefigur, die er immer noch in der Hand hielt. Es handelte sich um einen prächtigen Schimmel, der viel Ähnlichkeit mit einem Brauereigaul hatte. Die Figur sah unglaublich echt aus, was vielleicht daran lag, dass sie zumindest nicht vollständig aus Plastik hergestellt war. Zaumzeug, Sattel und Pferdeumhang (lindgrün, mit einem silbernen Vogel drauf, der auf einem Ast hockte  ihm wollte nicht einfallen, wie dieses Teil eigentlich richtig hieß) waren eindeutig aus Stoff und Leder. Die am Sattelknauf befestigte Schwertscheide war ebenfalls grün. Mit den Fingernägeln zog er das winzige Schwert heraus und glaubte, in diesem Augenblick ein leises Wiehern gehört zu haben. Hatte das Pferd geblinzelt? Alexander sah sich erschrocken um. Alles sicher nur Einbildung! Ritter und Prinzessinnen gab es nur im Märchen  und in seinen Träumen! Er betrachtete das Pferdefigürchen eingehend, ließ sich von seinem Anblick beflügeln und verbrachte die Wartezeit auf Vince in altbewährter Weise.

Kurze Zeit später bestieg ein wagemutiger Ritter ein schon ungeduldig wartendes Schlachtross und ließ sich von ihm in ein weit entferntes Königreich tragen, wo ein grausames Monster seit ewigen Zeiten Angst und Schrecken verbreitete. Noch war es keinem gelungen, das Monster zu vernichten oder wenigstens zu vertreiben. Unzählige Jungfrauen hatte es geraubt und keine von ihnen war jemals wieder zurückgekommen. Doch diesmal sollte seine grausige Tat nicht ungesühnt bleiben. Der Ritter war wild entschlossen, die Prinzessin zu retten und dem Monster den Garaus zu machen.
Es dauerte nicht lange, und er hatte das Ziel erreicht. Fröhlich zwitschernde Vögel begrüßten seine Ankunft und durchscheinende, wundersame Wesen begleiteten seinen Weg. Sie tanzten fröhlich um den Ritter herum und hüllten ihn ein mit ihrer unbeschwerten Heiterkeit. Fast wäre er ihren Verlockungen erlegen und abgestiegen. Doch weder seine Aufgabe noch das Ross duldeten einen Aufschub. Auf einem fast unsichtbaren Pfad, der sich durch eine sanfte Hügellandschaft zog, trabten Ross und Reiter zielstrebig zu einem burgähnlichen Gemäuer, darin das Monster hauste.
Forschen Schrittes, das Schwert in der Hand, überquerte er die schmale Zugbrücke. Drinnen zeigte sich kein Lebewesen und kein Laut war zu hören, nicht einmal das Summen eines Insektes. Fröstelnd hielt der Ritter inmitten dieser unguten Stille inne. Er schloss die Augen und ließ sich von seinem Schwert leiten. Es kannte den Weg besser als er selbst. Die Erregung über den bevorstehenden Kampf ließ sein Blut rascher durch die Adern strömen.
Muffige, übelkeiterregende Luft schlug ihm entgegen, als er durch eine verrottete Türöffnung in einen geheimen Gang einstieg. Vorsichtig tastete er sich den schmalen Gang entlang, nur schwach erleuchtet von dem weißen Licht, den das Schwert ausstrahlte. Nach wenigen Schritten versperrte ihm eine mit Metallbeschlägen versehene Tür den Weg. Seine Finger glitten tastend über die raue Oberfläche. Die Tür hatte nichts, womit er sie hätte öffnen können. Und doch, genau durch diese Tür musste er gehen, wollte er seiner Aufgabe gerecht werden. Er wusste, dass die Zeit drängte. Er wusste auch, dass der geringste Fehler das Leben der Prinzessin kosten würde. Da erschien in seinem Inneren ein Bild und zielstrebig tastete er die Mauersteine ab bis er die Erhebung spürte, die er unbewusst gesucht hatte. Einer der Steine ragte ein klein wenig hervor. Er ließ sich mühelos hineindrücken und mit einem leisen Knirschen gab die Tür den Weg frei. Noch ein Schritt, und schon sah er den Opferstein, der vor ewigen Zeiten von verblendeten Menschen errichtet worden war. Auf diesem Stein lag die wehrlose Prinzessin, festgehalten von schweren Ketten aus schwarzglänzendem Eisen. Über die Prinzessin gebeugt stand das Monster, eine blitzende Klinge in den Klauen, und intonierte einen schaurigen Gesang.
Das Schwert griff an, es zog den Ritter hinter sich her. Ein einziger Schlag spaltete das Monster in zwei Hälften. Hart knallte die Schwertspitze auf den Boden und lag danach so ruhig in der Hand des Ritters, als wäre nichts geschehen. Das Monster war tot. Die Ketten lösten sich in Luft auf. Die Prinzessin war frei. Angewidert starrte der Ritter auf die blauschwarzen Innereien des Monsters, die sich mit ekelhaft schmatzenden Geräuschen um etwas Rotes schlängelten. Wo hatte er sowas nur schon mal gesehen? Seinen Ekel überwindend, beugte er sich vor, um nach dem roten Stein zu greifen.

"Nein! Berührt ihn nicht!" rief die Prinzessin erschrocken aus. "Er ist die Wurzel allen Übels! Er ist nicht für Euch bestimmt!"
"Keine Angst", sagte er beruhigend, "keine Angst, es ist vorbei. Das Monster ist vernichtet! Es kann Euch nichts mehr anhaben! Nie wieder!" Ein gellender Schrei stieß in die Halle vor und brachte die stickige Luft zum erzittern. "Wir müssen das Gemäuer verlassen. Schnell!"
Der Ritter half der Prinzessin vom Stein herab, nahm sie hoch und trug sie den Weg zurück, den er gekommen war. Als er den dunklen Gang verlassen hatte, setzte er sie ab und nahm sie fest bei der Hand. Gehetzt rannten sie über den Schlosshof hin zum Tor. Die Prinzessin stolperte und verlor einen Schuh. Doch der Ritter duldete keine Verzögerung. Energisch zerrte er sie weiter. Schuhe aufzusammeln, dafür war jetzt keine Zeit, denn schon stürzte der trutzige Turm lautlos in sich zusammen. Allerhöchste Eile war geboten, wenn sie nicht zusammen mit dem Schreckensschloss in unaussprechliche Dimensionen verschwinden wollten. Sie preschten weiter, die Zugbrücke hinab und weiter bis zu einem kleinen Wäldchen. Gerettet! Schweratmend drehten sie sich um.
Die Zugbrücke, fast freischwebend in der Luft,  die Mauern hatten sich in flirrenden Staub verwandelt , bewegte sich langsam und kreischend nach oben und verschwand mit einem dumpfen "plopp". Einzig das Quietschen schlecht geölter Zugbrückenmechanik blieb zurück und schrillte noch eine ganze Weile in den Ohren.
Die Prinzessin hatte Tränen in den Augen, als sie dem Ritter für ihre Rettung dankte. Gerührt hielt er ihre Hand und lächelte sie versonnen an. Andächtig hob er ihre Hand an seine Lippen und versank im schillernden Grün ihrer Augen. Da durchfuhr ihn mit einem Mal ein übermächtiges und gänzlich zügelloses Verlangen. Er zog sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Dass sie sich dagegen sträubte, schien er nicht zu bemerken, vielleicht wollte er es auch nicht. Er berührten ihre Lippen mit seinem Mund, zart zuerst und ehrfürchtig, fast flüchtig, als traue sich er nicht, sie mit einem leidenschaftlichen Kuss zu entehren. Doch dann explodierte ein Kaleidoskop funkelnder, zumeist dunkelblauer Sternenblitze in ihrer beider Herzen. Ungestüm drängten sie sich aneinander, beide Gefangene eines sinnlichen Feuerwerkes, das durch ihre Körper raste. So schnell wie sie aufgeblüht war, erlosch die Leidenschaft auch wieder. Zurück blieb eine entehrte Prinzessin, die für den kurzen Rausch einen hohen Preis bezahlen musste. Den Ritter indes kümmerte dies wenig. Er verbeugte sich und zog seiner Wege. Er hatte seine Pflicht getreulich erfüllt. Seine Aufgabe war beendet. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun.

"Hey! Du da! Bist wohl high oder was? Hier wird nicht geschlafen!"
"Oh? Was? Verzeihung!" Alexander starrte den Wirt an und versuchte, sich zu fassen. Eben noch siegreicher Held und nun das! Er seufzte resigniert, als er seine Umgebung betrachtete. "High oder was?" wiederholte Alexander ziemlich leise aber überaus empört. Was verstand denn dieser dicke Cowboy davon? Was wusste der denn, was es bedeutete, ein wagemutiger Ritter zu sein? Er schloss die Augen und mit einem Mal kamen ihm die stinkenden Ausdünstungen der ekelhaften Würmer in der Nase. Das lag sicher nur daran, dass er neben der Tür zum Männerklo saß. Er schmunzelte, doch nur kurz, denn gleich darauf überkam ihn unversehens ein jäher Schreck. Irgendetwas war eindeutig ganz anders gewesen als sonst. Es war eigenartig gewesen, so als hätte nicht er, sondern ein anderer Regie geführt. Ihn überkam seltsamerweise die Einsicht, etwas Grundlegendes falsch gemacht zu haben, dass er sich zu etwas hatte hinreißen lassen, was nicht hätte geschehen dürfen. Der Kuss und alles andere war so realistisch gewesen. Er schüttelte bekümmert den Kopf und schob die Unterlippe vor. Normalerweise kümmerten ihn diese Geschichten nicht weiter. Es war ein Zeitvertreib, nichts weiter als ein Zeitvertreib, der ihm seit jeher großes Vergnügen gemacht hatte. Die Geschichten hatten sich altersentsprechend gewandelt, aber vergnüglich war es allemal. Und überdies sparte er sich so das Geld für all die FantasySchinken, deren unendlich viele Fortsetzungsbände man niemals in der richtigen Reihenfolge zu lesen bekam. Nachdenklich drehte er die kleine Figur in den Fingern hin und her.
Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben erklärte er sich nach einigem Grübeln damit, dass er seines Traumrittertums allmählich überdrüssig wurde, denn schon lange sehnte er sich tief in seinem Herzen nach einer wirklichen Frau aus Fleisch und Blut. Doch wie sollte er seine wirkliche Traumfrau erkennen? Wo sollte er ihr begegnen? Sein Vater hatte ihm ernsthaft versichert, dass die richtige Frau zur richtigen Zeit zu ihm kommen würde und ihn eindringlich davor gewarnt, sich leichtfertig zu verschwenden, da er sonst sein Glück in Gefahr brachte. Sollte er ihm glauben? Hatte er Mutter jemals so geliebt, wie er es für sich wünschte, dass er einmal eine Frau lieben würde? Hatte er geduldig gewartet? War alles so gekommen, wie er es sich erträumt hatte? Vielleicht hatte der Vater seine Traumfrau verloren oder gar nicht erst gefunden, weil er nicht hatte warten können? Alexander hätte seinen Vater jetzt gerne danach gefragt, doch das war unmöglich, nicht nur, weil er gerade jetzt nicht da war. Sie hatten sich schon lange nichts mehr zu sagen. Es war auch egal. Er konnte doch so oder so nichts anderes tun, als zu hoffen, dass er irgendwann eine liebevolle Frau finden würde, die ihn behutsam führen und deren Berührungen nichts Plumpes an sich haben würden. Wie hatte er in der Schulzeit unter dem Gegrabsche der älteren Mädchen gelitten. Es war wie ein Sport für sie gewesen; und wie sie gelacht hatten. Und  sehr viel später diese schreckliche Sache nach dem  Tanzstunden-Abschlussball. Wieder schüttelte er bekümmert den Kopf. Er wollte kein Herumgegrapsche. Er wollte eine Frau, die ihn liebte und die er liebte und mit der er zusammen sein konnte, ohne fürchten zu müssen, dass sich ihre Hände selbständig machten und sich Freiheiten erlaubten, für die er sich noch nicht reif fühlte.
Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf und strich sich über die Stirn. Fort mit diesen Gedanken: sie führten zu nichts. Hier gab es weit und breit keine Frau, sondern nur einen dicken Wirt.

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