Sommer in Dorado

Trotz der vielen Jahre, die zwischen Jetzt und Damals lagen, wusste Marie nicht was damals geschehen war. Sie erinnerte sich nicht, nicht einmal, warum sie fortgegangen war. Es gab Tage, da machte sie diese Ungewissheit ganz verrückt, an anderen, den versöhnlicheren, sagte sie sich, dass wohl ein Naturgesetzt verfügt habe, dass die Vergangenheit für immer unergründlich bleiben soll. Eines Tages aber, fast ein halbes Jahrhundert war vergangen, wurde die Ungewissheit übermächtig. Marie konnte nicht mehr schlafen, wach zu bleiben war ein enormer Kraftakt. Am Ende war dies der Zeitpunkt als sie beschloss, fortzufahren und sich die Antworten zu holen.

Die Nacht verbrachte sie im Zug, am Morgen war sie angekommehn. Vieles war neu, vieles erkannte sie. Erstaunlich war, dass die Stimmung, die sie beim Betrachten fühlte, genau die Stimmung war, die damals geherrscht hatte. Sie schauderte kurz, denn eigentlich was das unmöglich. Nach einem herzhaften Frühstück begann sie, wahllosen Menschen anzusprechen. Meist wurde sie ausgelacht oder hörte dummes Zeug. Einige wenige versicherten ihr eindringlich, sie solle die Vergangenheit ruhen lassen, solle sich damit zufrieden geben, nichts zu wissen und dass ihr leider nicht geholfen werden könne, wenn sie alles vergessen hätte.
Maria trank einen Kaffee an einem Stand auf der Straße. Im Bahnhof fuhr ein Zug ein und eine Erinnerung blitzte auf im selben Augenblick. Doch es war nur ein winziger Splitter, den sie zu fassen vermochte, eine vage Vermutung, dass die fehlende Erinnerung einen Fehler barg, der ihr unterlaufen war. Sie dachte darüber nach, ob es unter diesen Umständen nicht besser wäre, wieder abzureisen, denn wer wollte sich schon mit alten Fehlern beschäftigen, entschied sich jedoch zum Bleiben. Sie wollte so lange ausharren, bis herausgefunden hatte, was damals geschehen war.
Sie begann eine weitere Fragerunde durch den Ort, das Ergebnis blieb stets dasselbe. Weder erhielt sie eine Antwort, noch erfuhr sie, warum niemand antwortete. Verzweifelt hielt sie inne, zwang sich, stehen zu bleiben, solange bis ihre Unruhe sie dazu zwang, auf dem Bahnhofsvorplatz wie eine Irre hin- und herzurennen. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung, doch die anderen achteten sehr wohl auf sie und traten einen Schritt zur Seite, wenn sie auf sie zuraste. Maries Herz raste gleichfalls, sie bekam kaum Luft, unheilvolles kam Entsetzen über sie. Es musste doch jemand geben, der ihr helfen konnte. Sie konnte und wollte nicht aufgeben, jetzt, wo sie endlich zurückgekommen war. Marie bettelte und flehte und schließlich erbarmte sich ein alter Mann und verwies sie ans Hauptquartier am Ende der Straße. Dort solle sie sich melden.

Eine Frau mit kurzem grauen Haar, wies ihr einen Warteplatz zu und rief mit einem Winken einen Mann herbei. Er war der Sprecher jener Leute, die sich am anderen Ende des Raumes versammelt hatten. Mit raumgreifenden Schritten kam er auf sie zu. Marie verharrte über dem Stuhl, ohne zu sitzen, ohne zu stehen. Ganz offensichtlich war sie schon erwartet worden, hier wusste man, was sie vergessen hatte, hier wusste man von ihrer Schuld. Der Mann sah sie nur kurz an, bevor er seinen Blick zum Fenster hinausgleiten ließ und zu sprechen begann. „Sie haben damals, und das ist erwiesen und dokumentiert“, begann er, „an einer verbotenen Demonstration teilgenommen, wie viele andere auch. Sie haben verbotene Fahnen gehisst, auch das war nicht unüblich, damals, als alles drunter und drüber ging. Das alles war nicht weiter schlimm, war nur eine einfache Straftat. Alle damaligen Straftäter wurden begnadigt. Aber sie haben eine Rede gehalten, sie als einzige, und deswegen sind Sie als einzige verantwortlich für die Dinge, die dadurch in Gang gesetzt wurden. Deswegen werden Sie zur Verantwortung gezogen. Und nun, da Sie Bescheid wissen, hören Sie sofort damit auf, unbescholtene Bürger zu belästigen. Lassen Sie sie in Ruhe, niemand will sich aufregen, nachdem endlich Ruhe eingekehrt ist. Und nein, mehr Erklärungen werden Sie von mir nicht bekommen. Bleiben Sie hier sitzen, genau hier auf diesem Stuhl, solange, bis man sie abholt.“ Er wartete weder Antwort noch Reaktion ab, sondern ließ sie stehen und verließ den Raum.
Maries hatte gehört, aber keinesfalls etwas begriffen und die Erinnerung immer noch nicht da. Sie glaubte nicht, wessen der Mann sie angeklagt hatte, es konnte nicht wahr sein, keinesfalls. Wie sollte ausgerechnet sie, die nie den Mund aufbekam, eine Rede gehalten haben? Ihr Herz raste, ihr Blut rauschte in den Ohren, Nebel legte sich vor ihre Augen.
Jemand kam auf sie zu, sie öffnete die Augen, hob schwerfällig den Kopf. Vor ihr stand eine Frau mit blondem Haar, das sie hoch aufgetürmt auf dem Kopf trug. „Sie haben sich eines weiteren Verbrechens schuldig gemacht!“ las sie von einem Zettel ab. „Sie haben geschrieben, tausend Worte, die nur diejenigen verstanden, die um die geheime Bedeutung wussten. Für alle anderen war es unleserliches Gekrakel. Diese tausend Worte haben Sie als Geschenk in einem Buch verewigt. Dieses Manifest, noch mehr als Ihre Rede, führte zu dazu, dass alles vorher Dagewesene vernichtet wurde!“
Marie schrie auf, schrie „Nein!“ und verlangte nach Beweisen.
Die Frau nannte ein Wort, eines jener widersinnigen alten Worte. Und genau in dem Augenblick, als der Klang des Wortes in ihr Bewusstsein eindrang, erinnerte sich Marie. Sie erinnerte sich an dieses Wort. Sie erinnerte sich an die tausend vergessenen Worte, die sie vor langer Zeit in ein Buch geschrieben hatte, mit kleiner, runder Schrift. Aber an die Bedeutung dieses einen und auch die der anderen Worte erinnerte Marie sich nicht. Alles, die Demonstrationen, die Fahnen, die Rede, das Buch, war wie ausradiert.

Marie rannte davon, obwohl sie hätte bleiben müssen. Sie konnte den Anblick dieser Frau, die so schön und zu ihr so grausam war, nicht mehr aushalten. Sie rannte durch die erstbeste offene Tür, dahinter ein langer, fensterloser Gang, am anderen Ende eine weitere Tür. Gänge, Türen und Treppen wechselten sich ab, waren in ihree Gleichförmigkeit nicht zu unterscheiden. Zuerst lief sie ziellos, nur auf der Flucht vor ihren Anklägern. Allmählich jedoch wurde ihr klar, dass sie, sollte sie jemals wieder froh werden, zu einem bestimmten Zimmer gelangen musste, und dort würde sie die Wahrheit und Frieden finden, das war sicher. Die Zeit kam ihr abhanden, während sie rannte. Sie zählte nicht, wie oft sie die falschen Treppen hinauf- und dann wieder hinabgerannt war, auch nicht, wie oft der Fahrstuhl in die falsche Richtung gefahren war. Sie war verloren, wusste es nur noch nicht.
Vor Erschöpfung schluchzend und mit wunden Füßen kauerte sie auf einem Treppenabsatz. Hoch oben sah sie hinter einem winzigen Fenster ein Stück Himmelsblau. Egal, wie sehr auch rennen würde, egal wie verzweifelt sie auch war, erkannte sie, sie würde niemals ihr Ziel erreichen. Und Marie schrie, bis die Stimme versagte. Dann veränderte sich die Farbe an den Wänden, der Himmel hinter dem winzigen Fenster hoch oben wurde pechschwarz. Und noch einmal schrie sie, denn sie hatte erkannt, dass sie nur träumte, einen alten Traum träumte, einen, den sie schon vielmals geträumt hatte, einen von den vielen tausend, ohne Aussicht darauf, jemals anzukommen.

Marie ging die Treppe hinab zur Tür am Ende des Flurs, drückte die Klinke nieder und schob dir Tür auf, alle Gedanken darauf gerichtet, dieses Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen. Endlich raus hier, so freute sie sich. Draußen war der Himmel grau, wie anderen Gebäude, die den Platz begrenzten. Nebel stieg auf, feucht und kalt. Marie fröstelte, zog ihren Schal enger und dachte darüber nach, wie vieles gleichzeitig geschah und in Zukunft gleichzeitig geschehen würde.
Es gab nur einen Ausgang, der führte durch ein großes Tor, doch es war verschlossen. Das wusste sie, als hätte sie es schon einmal versucht. Das war der Zeitpunkt, als in ihr eine andere erwachte, eine, die sie nicht kannte, die dennoch vage vertraut schien. Sie fühlte sich gespalten, ganz ohne Grund, denn sie war heil und ganz und stand in diesem Hof, darauf vertrauend, dass das Tor sich öffnen würde, sobald die Zeit dafür gekommen wäre. Das Gefühl des Gespalten-Seins verstärkte sich rasant. Sie taumelte, als die verschiedenartigen Empfindungen sie überrollten, während sie nicht in der Lage war, auch nur einen Schritt zu tun. Ein kurzer Schreck durchfuhr sie, als sie auch diese Situation wiedererkannte, und sich wieder daran erinnerte, dass sie diesen Hof nie verlassen würde.

Der Hof verschwamm vor ihren Augen, wurde zu einem anderen irgendwo, wurde zu einem Schwimmbecken mit türkisblauem Wasser, sehr warm und sehr beruhigend. Maries seelischer Zustand indes blieb unbestimmt. Der Fluss, der durch dem See floss, führte neben seinen dunkelgrünen Wassern zahlreiche Geschichten mit sich, die schwammen und hüpften obenauf wie Korken. Marie ließ sich in den Fluss hineinziehen, sehr zufrieden damit, getragen und bewegt zu werden, wie Kork, wie Treibholz. Der dunkelgrüne Fluss stürzte ab. Marie wurde untergetaucht, geriet in eine querliegende Strömung, die sie fortspülte zu einem anderen Ort. Als das Wasser versiegte entdeckte Marie, dass sie kein Mensch war, sondern eine Aktennotiz, fein säuberlich abgeheftet in einem Aktenordner. Kurz fragte sie sich, ob dies die Strafe war für einstige Verbrechen. Die Zeit wurde stumpf und grau, verging dennoch, ganz wie es ihre Pflicht war. Marie indes verging nicht, sie träumte. Sie träumte von einem Fluss mit dunkelgrünen Wassern und einem weißen Boot obenauf, mit welchem sie davonsegelte an jeden Ort, von dem sie einst gekommen war, und wo ihr Leben darauf wartete, fortgesetzt zu werden.


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