Wandlung

Unsere Sonne starb und unsere Welt mit ihr. Die Tage, an denen die Sonne nur noch wenige Minuten am Tag als fahle Scheibe durch die Wolken drang, wurden zahlreicher, bald würde auch das vorbei sein. Wir Jungen kannten es nicht anders. Es waren nur die ganz Alten, die sich an eine kräftige und lebendige Sonne erinnerten. Doch obwohl die Älteste schon mehr als ein Jahrhundert lebte, war es keine ihr eigene Erinnerung, sondern nur die Erinnerungen der Ältesten ihrer Jugend. Und doch erzählte sie uns lebhaft von den vergangenen Zeiten, als wären sie selbst dabei gewesen: Grüne Wiesen und offenes Wasser so weit das Auge reichte und darüber eine strahlend helle Sonne. Unvorstellbar in einer Zeit, wo die Eisdecke die Kontinente und die Ozeane vollständig bedeckte. Wir lebten auf großen Eisseglern, einzeln oder in großen Flottenverbänden und kreuzten, den Winden folgend, über den gesamten Planeten. Etwas anderes kannten wir nicht und etwas anderes konnten wir uns nicht vorstellen. Doch nur zu gerne hörten wir die Märchen, die von zurückliegende Zeiten erzählten, wo unseresgleichen sorglos unter einer kraftvollen Sonne gelebt, geliebt und geatmet hatten. Mittlerweise hatte unsere Lebensform viele tausend Jahre auf diesem Planeten überdauert und nun ging es mit uns zu Ende.

Damals, als das Verlöschen der Sonne absehbar wurde, hatten unsere Vorfahren die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Sie trotzten der unausweichlichen Katastrophe so, wie wir es heute noch machen: Kinder zeugen und das Beste hoffen. Damals wie heute und in all der Zeit dazwischen, arrangierten wir uns mit den äußeren Umständen, so gut wir es eben vermochten. Einigen gelang das besser, anderen schlechter, die meisten erfroren oder verhungerten. Gewissermaßen vermehrten wir uns aus Trotz, denn sonst hätten wir uns eingestehen müssen, dass es mit uns zu Ende ging. Letztendlich waren umsere Kinder nichts weiter als unser Schutz gegen die Endlichkeit unseres Daseins, ein wertvoller Trost angesichts unserer Unwichtigkeit. Natürlich wurden immer weniger Kinder geboren, denn die Natur lässt sich nicht betrügen, egal was der Mensch ihr vorgaukelt. Doch wir benötigten jedes dieser Kinder als Schutzwall angesichts der unausweichlichen Katastrophe, sie waren unser Triumph über die Sterblichkeit.

Damals hatte es aber auch Menschen gegeben, die hinschauten, sonst wären wir längst ausgestorben. Diesen Menschen war es gelungen, weltweit die Kräfte von ihresgleichen zu bündeln. Es wurden Pläne geschmiedet und wieder verworfen, so lange, bis schließlich ein Weg gefunden worden war. Für diejenigen, die gehen wollten, bauten sie Raumschiffe und für diejenigen, die blieben, die großen Eissegler. Wenn auch die Sonne kraftlos war, so hatten wir doch den Wind, den wir einfingen und in Energie und Wärme umwandelten. Alles, wirklich alles, was damals an Material und Technik zur Verfügung gestanden hatte, war für den Bau der Segler und Schiffe verwendet worden. Dank des Wissens unserer Vorfahren lebten wir recht behaglich, zumindest diejenigen, die auf der Erde zurückgeblieben waren und zumindest für viele Jahre. Aber der Untergang war nicht aufzuhalten. Das Material der Segler ermüdete und sie wurden immer weniger, so wie wir Menschen auch. Die Raumschiffe waren vor 500 Jahren gestartet, die Startrampen lange schon vom Eis verschlungen.

Die Vegetation unseres Planeten dagegen hatte die Herausforderung angenommen, hatte sich angepasst und war mit dem Eis verschmolzen. Wir können das heute nur als Wunder bestaunen, denn uns war zwischenzeitlich jedewede Wissenschaft verloren gegangen. Doch auch die Eisblattvegetation würde erlöschen, sobald die Sonne nie wieder aufging. Vielleicht vermehrten sie sich deshalb so rasend schnell, weil auch sie wussten, dass es zu Ende ging. Vielleicht wollten sie im Untergang noch einmal ihre ganze Kraft und Schönheit entfalten. Das dachten wir uns so, wissen taten wir es nicht, denn wir sahen nur die Blütenfäden, die hoch in den Himmel hinauf wuchsen.
 
Unser Starrsinn und unsere Überheblichkeit machte es von Jahr zu Jahr schwerer, im Eis zu überleben. Wir hätten uns längst verändern müssen, einen Weg suchen, so wie die Eisblattvegetation es getan hatte. Eine neue Sicht auf die Dinge hätte uns wohl zu Gesicht gestanden, denn trotz der bedrohlichen Lebensumstände waren wir innerlich gleich geblieben. Noch immer waren wir grausam und schnell dabei zu zerstören, was sich uns in den Weg stellte. Wir waren oft ebenso gnadenlos und grausam wie unsere sonnenscheinverwöhnten Vorfahren, für die ein Menschenleben nicht viel gegolten hatte. Und doch verstanden wir nicht, wie sie sich damals gegenseitig in Massen umbringen konnten, wo sie doch alles gehabt hatten, was für ein glückliches Leben nötig war.

In den letzten Jahren, als allen klar wurde, dass wir wirklich die letzte Generation sein würden, geschah doch noch ein spätes Wunder. Wir griffen zu, allesamt, natürlich, denn am Ende wollte keiner sterben, wollte keiner der Letzte sein. Ab gewissermaßen lief es auf darauf hinaus: wir würden die letzten sein, nach uns gäbe es niemand mehr.

Die Wandlung begann, wie so vieles zufällig. Mein Vater hatte entschieden, dass er sterben wolle, bevor die Sonne es tat. Wir verabschiedeten ihn, so wie es Brauch war, brachten ihn zum Eisblattwald und ließen allein zurück. Nur seinen Stab nahm er mit, den brauchte er, um den Ort zu markieren, wo er sich zum Sterben hinlegen würde. Denn eine Leiche würde es nicht geben, die Eisblattvegetation würde ihn vollständig verdauen. Nachdem wir seinerzeit herausgefunden hatten, was mit den Leichen geschah, die im Eisblattwald bestattet wurden, hatte es immer wieder Versuche gegeben, die Eisblattvegetation auch für unsere Nahrungsproduktion zu nutzen. Aber es hat nie geklappt, denn die Vegetation, die einzig übrig gebliebene Vegetation in freier Wildbahn, war absolut giftig. Ein paar Tage nach dem Tod meines Vaters machte ich mich auf den Weg, um im Eisblattwald seinen Stab zu holen, ihn auf diese Weise zu ehren und die Erinnerung zu erhalten. Ich wollte nicht länger warten, eine innere Unruhe trieb mich an.

Die Eisblattvegetation benötigt fünfzehn Tage, um einen ausgewachsenen menschlichen Körper komplett zu verdauen. Meist ging es schneller, aber mit fünfzehn Tagen war man auf der sicheren Seite. Zum einen war der Verdauungsprozess kein schöner Anblick und zum anderen konnten wir Menschen uns schon immer schlecht eingestehen, dass auch wir nur Teil des ewigen Nährstoffkreislaufs sind. Deswegen begaben wir uns nur zum Sterben in den Eisblattwald und gingen deswegen immer allein.

Vorsichtig ging ich zwischen den Bäumen einher, hielt sorgfältig Abstand zu Ranken, Wurzeln und Ästen. Es gab zwar keine Berichte darüber, dass die Eisblattvegetation jemals einen Menschen angegriffen hätte, aber damit rechnen tat jeder. Endlich fand ich den Stab, ergriff ihn und wollte mich rasch zum Gehen wenden, als mich eine Stimme – meines Vaters Stimme – zum Bleiben aufforderte. Erschreckt blieb ich stehen, sah ich mich hektisch um und klammerte mich mit beiden Händen an seinen Stab.
„Vater!“ rief ich, erst leise und dann lauter, „Vater! Wo bist du? Was ist passiert? Warum bist du nicht tot!“
„Mein Sohn!“ antwortete er laut und deutlich. „Sei unbesorgt! Es ist alles so, wie es sein soll. Mein Leichnam ist verdaut und übergegangen in die physikalische Struktur der Eisblattvegetation und nährt diese nun. Doch ich trug noch den goldenen Ring, als ich verschied, du erinnerst dich, den Ring aus Gold, ein schmaler Reif an meinem kleinen Finger. Auch das Gold wurde verdaut, die Eisblattvegetation lässt nichts verkommen. Das Gold war es, das eine tiefgreifende Veränderung bewirkte, denn es machte mich zu einem aktiven Element, zu einem aktiven Mitglied der Eisblattvegetation. Und ich erkannte, welchen Weg sie wählten, um dem Untergang zu entgehen. Und wir können daran teilhaben!“
„Aber Vater,“ flüsterte ich, „wir können dem Untergang nicht entgehen, niemand kann es, nicht die Eisblattvegetation und wir erst recht nicht!“
„Wir können dem Untergang nur dann entgehen“, antwortete mein Vater wieder laut und deutlich, „wenn wir unser Menschsein aufgeben!“
„Aber Vater!“ schrie ich verzweifelt, „dann sind wir tot, so wie du tot bist und ich hier im Wald stehe und halluziniere!“ Mit diesen Worten wandte ich mich ab und begann den Rückweg.
„Mein Sohn!“ rief mein Vater, „hör zu bevor du gehst und entscheide dann selbst.“ Ich gewährte ihm diese letzte Bitte, und hörte zu.
„Die Eisblütenvegetation!“ begann er, „ist ein komplexes und hochintelligentes System. Zu Beginn waren die Eisblätter für uns bekömmlich und schmackhaft. Weil aber ihr Überleben davon abhing, nicht von uns gefressen zu werden, implementierten sie ein für uns tödliches Gift in ihrer Struktur. Und jetzt, wo es auch für sie zu Ende geht, verlassen sie den Planeten, zumindest kein kleiner Teil!“
„Sie verlassen den Planeten?“, schrie ich und lachte irr. „Das sind Pflanzen, nichts weiter, sie wurden zufällig giftig und wurden zufällig zu Fleischfressern, so wie es schon immer fleisch-fressende Pflanzen gegeben hat! Was mache ich hier? Rede mit einem Toten, der vorgibt, nicht tot zu sein und muss erfahren, dass diese elenden Pflanzen diesen elenden Planeten verlassen können, während wir hier elendig verrecken werden!“ Ich stapfte weiter.
„Halt ein, mein Sohn, lauf nicht weg“, flehte mein Vater, „so hör mir zu!“ Also hörte ich, denn ich war immer ein gehorsamer Sohn. „Die Eisblattblüte entwickelt bevor sie stirbt, einen einzigen überlangen Blütenfaden, wir alle haben die Blütenfäden gesehen, die überall aus den Wäldern in den Himmel schossen. Am Ende des Fadens befindet sich ein Samenkorn, das wussten wir nicht. Und schon gar nichts wussten wir davon, dass jener Blütenfaden, deren Stamm einen Menschen verdaut, kräftig genug wird, um den Samen so zu schleudern, dass dieses die Schwerkraftzone des Planenten überwindet und in den Weltraum hinausschießt.“
„In den Weltraum!“ lachte ich freudlos und ging weiter.
„Es ist ungeheuerlich“, bestätigte mein Vater, „und ja, es ist grauenhaft, einerseits, aber vielleicht besser, als nur tot zu sein am Ende. Ich habe mein Bewusstsein mit der Eisblattvegetation verschmolzen, ich bin der Stamm und die Blüte und der Faden und das Korn. Wenn nun dieses Samenkorn hinausgeschleudert wird, ist ein Teil von mir mit dabei.“
„In einem Samenkorn!“ schrie ich und ging weiter, drehte mich nicht mehr um, hielt nicht mehr inne und mein Vater blieb stumm.

Ich kam spät zurück und man hatte sich schon Sorgen gemacht. Als ich ihnen berichtete, was mir widerfahren war, lachten sie mich aus. Doch über Nacht hatte ein jeder nachgedacht und ein jeder fällte dieselbe Entscheidung. Noch vor dem Frühstück informierten wir die Besatzungen der übrigen Eissegler und bis auf einen kamen alle am nächsten Tag. Wir stellten einen großen Kessel auf, warfen alles Gold hinein, was wir finden konnten und entfachten ein großes Feuer aus den Ahnenstäben und schmolzen das Gold. Dann zogen wir Golddraht, so gut wir es eben vermochten, und verteilten ihn. Ich glaube es war das erste Mal, dass bei der Verteilung einer Ressource nicht gestritten wurde und am Ende alle denselben Anteil daran hatten.

Und dann gingen wir hinaus in den Eisblattwald, mit Golddraht behangen aber ohne Stäbe, die waren verbrannt, wir brauchten sie auch nicht mehr. Mein Vater war schon fort, oder ich hörte ihn nicht mehr oder es war alles Einbildung. Aber die Entscheidung war gefallen. Es gab kein Zurück mehr, so oder so und wir würden es jetzt und heute beenden, würden uns jetzt und heute der Eisblattvegetation anvertrauen.
Ich ging zusammen mit meiner Frau. Als wir unseren Platz gefunden hatten, waren wir bereit, unseren menschlichen Gen- und Bewusstseinspool in die Eisblatt-DNA einzufügen, auf dass wir in den Weltraum geschleudert würden als Teil eines winzigen Samenkorns.

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