Nachts auf der Schlossallee

Es war Freitag und fast Mitternacht, als Eva Vollmer, gefolgt von Rosa Müller, das TOSCANA verließ. Eva ließ sich von Rosa Müller ein Pfefferminzbonbon aufdrängen und sich vertraulich unterhaken. Es waren nur ein paar Meter bis zum Parkplatz und so ließ Eva es geschehen, obwohl es ihr unangenehm war.
„Oh“ kreischte Rosa aufgeregt „ist das toll, darf ich mal kurz einsteigen.“ Eva nickte, viel zu perplex um abzulehnen, und schloss die Beifahrertür auf. „In genau so einem Auto“ erläuterte Rosa ungefragt „verlor ich auf dem Rücksitz, na, Sie wissen schon ...“ Nein ich weiß nicht, dachte Eva entnervt, ist die vielleicht hinüber. „Hier, nehmen Sie noch ein Pfefferminzbonbon, Sie haben doch auch getrunken, das hilft auf alle Fälle und schadet nie!“ Schon hatte sie Eva das zweite in die Hand gedrückt, die es automatisch in den Mund steckte. „Ich geh dann mal los, ich hab's nicht weit, tschühühüs“ trällerte Rosa und ging deutlich schwankend davon.

Eva lehnte sich wohlig auf dem Sitz zurück und massierte sich die Schläfen. Das Auto hatte sie sich eigens für diesen Abend von einer Freundin geliehen, um bei den ehemaligen Kolleginnen von „Kaiser & König“ Eindruck zu schinden. Doch nun hatte es, außer dieser Rosa, die sie noch nicht einmal kannte, keine gesehen. Eva war als Letzte gekommen und die Erste, die die Runde im TOSCANA verließ. Das Geschwätz war ihr auf die Nerven gegangen und die hochnäsige Bedienung ebenfalls. Sie hätte es wissen müssen; hier in der Gegend trugen alle die Nase hoch. Auch „Kaiser & König“ residierte hier ganz passend, gleich schräg gegenüber.
Einen Moment lang saß sie so und betrachtete den Mond. Oh ja, dachte sie, ich hätte besser drei Stunden lang den Mond angestarrt, das wäre auf alle Fälle spannender gewesen. Sie hätte es wissen müssen. Doch sie konnte einfach nicht „nein“ sagen, als letzte Woche die Bürovorsteherin angerufen und sie eingeladen hatte. Einzig das Thema „Wurgemann“ hatte ein gewisses Interesse geweckt, aber letztendlich war diese Sache längst Schnee von vorgestern. Wenn Eva den Kopf neigte, konnte sie Wurgemanns Etage sehen. Eine ganze Etage beanspruchte dieser Lump. Es war unglaublich, dabei war er doch nur Referatsdirektor. Dank Frau Wolf, ganz nett eigentlich, aber eine elend neugierige Quasselstrippe, die reichlich pikante Details über Wurgemanns nicht stattgefundene Scheidung ausgeplaudert hatte, wusste sie, dass er seit einiger Zeit im Büro schlief und dort regelmäßig Besuch von einer Domina bekam.

Es war Vollmond und die ausladenden Kastanienbäume längs der Schlossallee standen in voller Blüte. An sich eine schöne Sache, dachte Eva, aber nicht gerade jetzt. Eintönig wechselte Licht und Schatten auf der Fahrbahn. Ihr wurde regelrecht schummrig davon. Andere Autos waren nicht unterwegs, Fußgänger schon gar nicht. Wie ihr das so auffiel, wurde ihr mulmig zumute. Sei vernünftig, sagte sie sich, das ist ganz normal um diese Uhrzeit, nur noch ein Stück, dann kommt die Kreuzung. Sie atmete tief durch und verscheuchte energisch aufkeimende Gedanken an Geschichten über mordende Irre und abgeschlagene Köpfe.
Das Schattenspiel war ermüdend. Übel wurde ihr auch. Sie schaltete einen Gang zurück, fuhr noch langsamer. Wann kam endlich die Kreuzung? Sie rieb sich die Augen, sah einen Moment lang nirgendwohin, dann wieder auf die Fahrbahn und genau in diesem Augenblick krachte es. Sie wurde vorwärts und rückwärts geschleudert, der Wagen ruckte, der Motor würgte, der Wagen ruckte noch mal und der Motor soff ab. Was um Himmels Willen war das gewesen? Ihre Hand am Türgriff stockte. Kein anderes Auto weit und breit. Das Herz raste, Blut rauschte in den Ohren. „Nein“ sagte sie laut „ich werde nicht hysterisch, gibt keinen Grund zur Hysterie, ich bin hier mitten in der Stadt. Ich bin (ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern) eine Frau, nachts allein im Auto unterwegs auf einer verlassenen Straße.“ Mitten in der Stadt? Was hatte da so seltsam gekracht? Was lag auf der Fahrbahn? Ihre Hand zitterte, als sie langsam den Türgriff losließ. Bloß nicht aussteigen, dachte sie, bloß nicht aussteigen.

Blaulichtblitze durchzucken die Nacht. Es wummert gegen die Fahrertür. Eine Stimme bellt unverständliche Worte, wieder und wieder. Gestalten in olivbraunen Overalls, die Gesichter unkenntlich, reißen die Tür auf, packen sie, zerren sie aus dem Auto, reißen an ihren Haaren, reißen an ihren Armen. Metall klickt um ihre Handgelenke. Stolpernd bewegen sich ihre Beine in die Richtung, in die ihr Oberkörper rüde gedrängt wird. Wildes Rauschen in ihren Ohren dämpft die bellenden Stimmen. Das zuckende Blaulicht lässt die Umgebung unwirklich erscheinen. Sanitäter mit einer Trage gehen vorbei, lautlos und orangerot leuchtend. Sie öffnet den Mund doch der Schrei verhallt ungehört. Das Gift wirkt. Sie fällt und fällt und fällt.
Sie erwacht, als ihre Blase sich meldet. Sie liegt in einem Bett, ein Lichtstrahl beleuchtet die ineinander verknoteten Finger. Sie sind kalt. Sie bewegt die Finger, dann die Füße, rollt sich auf die Seite und macht sich bereit zum Aufstehen. „Liegen bleiben!“ Überrascht hält sie inne, hebt den Kopf, blinzelt, kann nichts erkennen, der blendende Lichtstrahl macht die Welt außerhalb des Bettes unsichtbar. „Ich muss mal! Dringend!“ antwortet sie, verlagert das Gewicht, hievt umständlich ihren Oberkörper hoch. „Nicht bewegen“ bellt die. Sie verharrt, schaut hoch. Neben ihr steht nun eine Frau, jung, das Haar so lang und so blond wie ihr eigenes, zu einem straffen Zopf gebunden. „Jetzt aufstehen, ich begleite Sie zur Toilette“ sagt die Frau barsch, kein Lächeln mildert ihren Ton.
Ihre Beine torkeln unsicher. Ihr Mund ist trocken. Jede unbedachte Bewegung malträtiert ihren Kopf. In der Toilette ist es kalt. Es gibt keine Tür. Die Frau im olivbraunen Overall dreht sich noch nicht einmal um.
Erleichtert verkriecht sie sich wieder im Bett. Die Tür fällt ins Schloss. Es ist still. Mehr als ein leises, elektrisches Summen ist nicht zu hören. Irgendwann nickt sie wieder ein.
Das Einschalten der Deckenbeleuchtung weckt sie. Mit zusammengekniffenen Augen sieht sie einen Mann von einem Stuhl aufspringen, auch er im olivbraunen Overall. Er salutiert vor einem Mann; sein Gesicht ist im Schatten des weit herabgezogenen Hutes nicht zu erkennen. Neben ihm steht Frau Wolf.
Das ist doch lächerlich, denkt sie und hat Mühe, das aufkeimende Lachen zu unterdrücken, denn das ist sicher kein passender Moment. Der Mann in Hut und Mantel nickt dem stramm Stehenden zu und gemeinsam verlassen die beiden Männer den Raum.
„Kommen Sie“ fordert Frau Wolf. „Kommen Sie mit. Ich bringe Sie fort von hier.“
„Habe ich jemand totgefahren? Was ist mit dem Auto? Was ...?“ fragt sie und bleibt halb erhoben auf dem Bett sitzen.
„Los kommen Sie! Wir müssen fort! Kommen Sie doch endlich!“ Frau Wolf greift ungeduldig nach ihrer Hand.
„Ich habe jemand totgefahren“ murmelt sie tonlos. „Ich gehe nirgendwo hin.“
„Machen Sie keine Dummheiten!“ sagt Frau Wolf ruhig aber bestimmt. „Reißen Sie sich zusammen! Ich bin hier, um ihnen zu helfen. Vertrauen Sie mir! Alles wird gut!“
Sie gehen einen Gang entlang. Am Ende des Ganges öffnet sich lautlos eine Automatik-tür. Auf der anderen Seite steht ein fensterloser Kleinbus mit laufendem Motor. Die beiden Frauen steigen durch die Schiebetür an der Seite ein. Drinnen ist es warm und dämmrig. Eva döst vor sich hin. Alles wird gut, denkt sie, es ist nur ein schlechter Traum.

Auf dem Parkplatz eines einsam stehenden Landgasthofes stiegen Eva Vollmer und Frau Wolf aus dem Kleinbus aus. 'Heute Ruhetag' stand auf einem großen Schild neben der Parkplatzeinfahrt. Vogelgezwitscher, in der Ferne das Tuckern eines Treckers, mehr war nicht zu hören.
„Kommen Sie“ drängte Frau Wolf und zog sie eilig zur Eingangstür. „Drinnen können Sie sich aufwärmen.“ Wie zur Bestätigung öffnete sich im selben Augenblick die Haustür und ein Mann trat auf die Veranda.
„Schubert“ stellte er sich mit einer knappen Verbeugung vor. „Gustav Schubert. Zu Ihren Diensten. Wenn Sie nun bitte hereinkommen möchten? Sie werden sicher Hunger haben.“
Eva, unfähig auch nur einen Schritt zu tun, starrte ihn nur an. Erst als Frau Wolf ihr von hinten einen leichten Schubs gab, setzte sie sich in Bewegung und ließ sich von Schubert in einen lichtdurchfluteten Speiseraum dirigieren. An einem der Fenstertische war ein Frühstück vorbereitet. „Schauen Sie,“ weckte Schubert ihre Aufmerksamkeit und zeigte aus dem Fenster, „dort steht das Auto. Wir haben mit der Halterin gesprochen. Sie ist eine Freundin von Ihnen, nicht wahr? Wir haben ihr erklärt, dass Sie das Wochenende auf dem Land verbringen. Ja, Sie werden ein paar Tage mein Gast sein, das lässt sich im Moment nicht vermeiden. Von Ihrem kleinen Unfall weiß sie nichts. Wenn Sie ihr nichts sagen, wird sie es auch niemals erfahren, was für alle Beteiligten letztendlich das Beste wäre. Der Wagen kommt noch heute in die Werkstatt.“ Schubert deutete auf den Tisch. „Nehmen Sie bitte Platz. Greifen Sie zu, gleich kommen Nachrichten, da sollten Sie etwas im Magen haben.“ Eva machte nichts weiter als Schubert reglos anzustarren. „Nun setzen Sie sich doch! Essen Sie etwas!“ Eva setzte sich also und er legte ihr zackig eine Serviette auf den Schoß. „Trinken Sie, Sie haben bestimmt Durst!“ Eva nickte gehorsam und begann zu trinken, erst ein Glas, dann ein zweites und sogar ein drittes. „Und nun ein Tässchen Kaffee, das weckt die Lebensgeister, dazu ein frisches Croissant mit ordentlich Butter und Konfitüre, das hebt die Stimmung, nicht wahr?“ Eva nickte und kaute und trank den Kaffee und spürte die Wirkung.

„Ach, hören Sie doch auf mit dem Theater“ fuhr sie ihn unwirsch an, als er ihr Rührei mit Speck und Petersilie aufschwatzen wollte. „Das darf doch alles nicht wahr sein! Irgend-was stimmt hier doch nicht! Was wird hier eigentlich gespielt? Wollen Sie mir das nicht endlich mal erklären?“
„Selbstverständlich, ich bitte vielmals um Entschuldigung für die Umstände, gedulden Sie sich noch einen Augenblick ... rauchen Sie? ... Nein! Sehr vernünftig!“ Er schaltete den Fernseher ein. „Die Nachrichten! Hören Sie einfach zu!“

... Dr. Wurgemann, Mitglied des geschäftsführenden Aufsichtsrates der bankrotten „Bäderlandschaft“ wurde in der vergangenen Nacht tot aufgefunden. Eine offizielle Stellungnahme steht zur Stunde noch aus ...

„Das ist die Version der seriösen Berichterstattung,“ erläuterte Schubert, Evas Aufstöhnen ignorierend. „Es gibt aber auch andere, die anscheinend mehr wissen.“ Er hob eine Zeitung hoch. Und tatsächlich: auf der ersten Seite prangte ein Foto, schwarz-weiß, undeutlich zwar, es hätte auch sonstwo sein können, das einen nächtlichen Großeinsatz der Polizei zeigte. Dazwischen ein weißes Auto, neben dem Auto eine Umrisszeichnung auf dem Boden. Eva sprang auf und riss Schubert die Zeitung aus der Hand.
„Ist er tot?“ fragte sie.
„Ja“ sagte Schubert schlicht.
„War ich das?“
„Nein!“

„Ist das ... da ... wo?“ Ihre Erinnerung an das Geschehene war lückenhaft. Schubert nickte. „Viel ist nicht zu erkennen“ bemerkte Eva mit einer gewissen Erleichterung. „Ich bin nicht drauf, das Nummernschild auch nicht und solche Autos gibt es mehr als einige. Aber wenn er tot ist und ich es nicht war, warum bin ich hier? Und was hat Frau Wolf mit der ganzen Sache zu tun? Sie war eine Kollegin!“
„Nun“ antwortet Schubert “immer der Reihe nach. Fakt ist, dass es nicht so war, wie diese Zeitung schreibt. Lesen Sie nun bitte erst, was diese Zeitung schreibt, das ist alles Unsinn, aber es ist das, was die Mörderin sich ausgedacht hat.“
„Mörderin?“ echote Eva perplex.
„Nun lesen Sie doch!“ drängelte Schubert.

Mord aus Eifersucht. Mitglied des Aufsichtsrates der „Bäderlandschaft“ von seiner ehe-maligen Geliebten, einer drogensüchtigen Terroristin, erschossen. Die Witwe berichtet von massiven Drohungen in den vergangenen Wochen.

„So“ sagte Schubert resolut, „geben Sie die Zeitung wieder her, wir werfen sie fort. Setzen Sie sich wieder, vielleicht hier auf das Sofa, trinken Sie noch eine heiße Schokolade, das ist gut für die Nerven.“ Er schenkte ihr nach und fuhr fort. „Erinnern Sie sich noch an die Szene zwischen Ihnen und Herrn Wurgemann, die zu Ihrer fristlosen Kündigung führte? (Eva nickte, DAS würde sie nie vergessen!) Es gab danach reichlich Gerüchte, die Ihnen ein intensives Verhältnis mit ihm andichteten. Diese Gerüchte verbreitete Rosa Müller, die eine Freundin der Gattin war.“
„Rosa Müller?“ fragte Eva, „was hat die denn damit zu tun?“
„Nun warten Sie doch ab!“ erwiderte Schubert energisch. „Das ist eine komplizierte Ge-schichte. Frau Wurgemann wollte sich schon seit einer ganzen Weile von Herrn Wurgemann scheiden lassen, was dieser aber nicht wollte. Das wusste aber niemand. Dann lernte Frau Wurgemann die deutlich jüngere Rosa Müller kennen. Unter welchen Umständen die beiden sich kennen gelernt haben, ist nicht bekannt. Bekannt ist allerdings, dass Rosa Müller engen Kontakt zu einer Gruppe pflegte, die aus vornehmlich im IT-Bereich gut ausgebildeten jungen Erwachsenen bestand, die ihre Fähigkeiten gegen entsprechendes Entgelt auch für zwielichtige Zwecke zur Verfügung stellten. Diese Gruppe sorgte dafür, dass sie an jenem Abend alleine auf der Schloßstraße unterwegs waren.“
„Aber was hat das alles nun mit mir zu tun? Ich arbeitete nur kurz für Herrn Wurgemann und die Frau habe ich nur einmal gesehen!“
„Ja, nur dieses eine Mal,“ fuhr Schubert fort, „als sie sich mit mächtigem Getöse aus der Firma verabschiedet haben. Das war kurz nachdem sich Frau Wurgemann und Rosa Müller kennengelernt hatten. Wie eingangs erwähnt, klappte das mit der Scheidung nicht und Frau Wurgemann beschloss, die Trennung von ihrem Ehemann auf anderem Wege zu vollbringen. Frau Wurgemann und Rosa Müller heckten den Plan aus, Sie als Mörderin hinzustellen. (Eva stöhnte) Es sollte so aussehen, als wäre Wurgemann von Ihnen aus Rache in eine tödliche Falle lockt worden. (Eva stöhnte noch mehr.) Rosa Müller war diejenige, die letztendlich alles ins Rollen brachte und im Weiteren die Durchführung organisierte.“ Schubert räusperte sich und trank einen Schluck. „Es begann damit, dass Rosa Müller die Bürovorsteherin davon überzeugte, sie unbedingt zum „Büro-Stammtisch“ im TOSCANA einzuladen. Sie folgten der Einladung und Rosa Müller, nun ja, sie hat sich doch bestimmt darum gerissen, Ihre Bekanntschaft zu machen? Sie hat Ihnen doch bestimmt etwas gegeben?“
„Gefüllte Pfefferminzbonbons“ flüsterte Eva.
„Dann war das GHD in den Pfefferminzbonbons“ schlussfolgerte Schubert. „Sie kollabierten und wurden ärztlich behandelt.“
„Ein Krankenhaus war das aber nicht!“ warf Eva empört ein, dass sie vergiftete Pfefferminzbonbons genommen hatte, verdrängte sie für den Moment.
„Stimmt“ bejahte Schubert, „nur das Krankenzimmer eines Gefängnisses. Das müssen Sie verstehen.“
„Na wunderbar“ höhnte Eva, „nun muss ich auch noch Verständnis haben.“
„Jetzt hören Sie einfach zu!“ Schubert wurde energisch. „Sie wurden in eine komplizierte Angelegenheit verwickelt. Wenn Sie mich dauernd unterbrechen, vergesse ich womöglich etwas. Also: hören Sie einfach zu. Die Polizei gelangte an den Tatort, fand den toten Wurgemann neben Ihrem Auto und auch eine Waffe. Sie wollten nicht aussteigen, reagierten nicht, schrien und tobten und wurden schließlich ohnmächtig. Sie hatten keine Papiere dabei, bei der Überprüfung der Autonummer stellte sich heraus, dass Sie nicht die Halterin sein können und die Halterin war nicht erreichbar. Aber keine Sorge, ihre Handtasche ist zwischenzeitlich von der Polizei sichergestellt worden. (Eva stöhnte.) Der Polizeichef, der mit den Wurgemanns bekannt war, wusste von Frau Wurgemann, dass Herr Wurgemann bedroht und erpresst wurde und zwar von einer ehemaligen Geliebten. 10 Millionen solle er zahlen, oder er würde umgebracht. Der Polizeichef glaubte das nicht, er hielt sie für ein wenig überspannt, zumal Herr Wurgemann selbst eine derartige Bedrohung abgestritten hatte. Wenig später erhielt er einen anonymen Hinweis, nach welchem Herr Wurgemann auf der Todesliste der AKW-III-Gruppe aufgetaucht sei. Er recherchierte gewissenhaft, aber es ergab sich kein Hinweis auf die Existenz einer solchen Gruppe. Als Frau Wurgemann ihn jedoch in der besagten Nacht aus dem Schlaf klingelte und berichtete, ihr Mann sei unterwegs zu einer Geldübergabe, reagierte der Polizeichef erwartungsgemäß und schickte eine Sondereinsatztruppe. Herr Wurgemann seinerseits hatte sich auf Drängen seiner Frau an den besagten Ort begeben. Es ging um viel Geld, das offiziell Frau Wurgemann gehörte und das er wiederhaben wollte. Das viele Geld war auf verschlungenen Wegen hin und hergeschoben worden und nunmehr verfügte einzig Frau Wurgemann über die Zugangsdaten zu den diversen Konten. Damit hat sie ihn gelockt, wie wir inzwischen wissen. Herr Wurgemann traf eine knappe halbe Stunde vor Ihnen an der Admiralstraße ein. Er war mit dem Taxi gekommen und wurde von einer blonden Frau erwartet, das weiß die Polizei inzwischen vom Taxifahrer. (Eva stöhnte erneut und griff sich an den Kopf.) Auf dem Nachbargrundstück befindet sich das Holzlager einer Baufirma. Vor der Einfahrt zu diesem Grundstück lag, quer über ihrer Fahrbahnseite ein dicker Balken, wohlplatziert im Schatten und kaum zu sehen. Als Sie mit Ihrem Auto dagegen fuhren, zum Glück fuhren Sie ja sehr langsam, befand sich das Ehepaar Wurgemann ganz in der Nähe. Herr Wurgemann ging sofort zu der Unfallstelle und wurde, als er dort angelangt war und sich zu seiner Frau umdrehte, von dieser erschossen. Frau Wurgemann legte die Tatwaffe, eine Pistole mit Schalldämpfer, und ihre Handschuhe neben den Toten. Unter den Handschuhen trug sie Gummihandschuhe, so dass es von ihr keine Fingerabdrücke gibt. Von Ihnen zwar auch nicht, aber die Beweislast für Sie wäre erdrückend gewesen. Das Sonderkommando war zu diesem Zeitpunkt schon unterwegs, doch Frau Wurgemann fuhr über Grundstücksausfahrt an der Admiralstraße nach unbehelligt nach Hause. Alles ganz einfach.
„Das ist doch absurd“ rief Eva, „woher wusste denn Rosa Müller, welche Strecke ich fahren würde, ich hätte ja sonst wie hinfahren können, und woher wissen Sie das alles eigentlich. Und wie kam der Balken auf die Straße schaffen und von dort wieder fort?“
„Das stimmt wohl, es scheint recht absurd“ bestätigte Schubert „aber es ist nicht unerklärlich. Rosa Müller hat Sie doch bestimmt zum Aufbruch ermuntert?“
„Weiß nicht, nein eigentlich nicht“ überlegt Eva „aber sie kam mit mir raus und … aber warum ...?“
„Erinnern Sie sich an die vielen Straßensperrungen, Baustellen und Umleitungen? Das waren die Leute der oben erwähnten Gruppe. Sie wären, egal welches Ziel Sie gehabt hätten, vom TOSCANA aus zur Schlossallee geleitet worden. Die Schlossallee war eine Zeitlang sogar völlig abgesperrt. Außer Ihrem Auto wurde keines durchgelassen. Der Verkehr wurde über die Admiralstraße umgeleitet. Da ist unheimlich viel kreative Energie in einen äußerst unguten Zweck geflossen; flächendeckende Verkehrsüberwachung und Mobilfunk machen es möglich. Es ist fraglich, ob überhaupt jemals einer von denen erwischt wird. Das mit dem Balken war dagegen lächerlich einfach: der Stamm wurde mittels einer kleinen Zugmaschine auf die Straße gezogen, die Maschine wendete und nach vollbrachtem Aufprall, noch bevor die Wurgemanns zum Unfallort kamen, wurde der Balken wieder zurückgezogen. Der Fahrer der Zugmaschine stammt vermutlich aus dem Umfeld von Rosa Müller, aber vermutlich wird die Polizei auch ihn nicht finden. Zuvor war die Alarmanlage der Holzfirma fachmännisch für die Dauer der Aktion ausgeschaltet worden. Die Straßensperrung der Schlossallee wurde erst weggeräumt, als die Polizei schon fast vor Ort war. Auch diese Herrschaften wird man wohl nicht dingfest machen. Außer der vom Polizeichef in Gang gesetzten Sondereinsatztruppe sollte kein anderer Sie finden.“
„Das ist der größte Unfug, den ich jemals gehört habe“ rief Eva empört und begann, auf und ab zu rennen. „Das darf doch alles nicht wahr sein! Aber da stimmt doch was nicht? Wenn ich zur ehemaligen Geliebten, gnadenlosen Mörderin und drogensüchtigen Terroristin abgestempelt wurde, wieso bin ich dann nicht im Gefängnis, wieso bin ich hier?“
„Weil das nicht alles ist. Wurgemann war ein ausgebuffter Geschäftsmann, ein dicker Hai in vielen Gewässern und ...“
„Das wird ja immer unsinniger! Der Wurgemann hatte eine reiche Frau, die hat ihm einen Direktorposten bei „Kaiser & König“ gekauft hat, in Wirklichkeit hatte er eine Ahnung und ohne die Bürovorsteherin wäre die Abteilung den Bach runter, das weiß doch jeder!“
„Nur weil es jeder weiß, braucht es nicht zu stimmen. Wurgemanns Frau war nicht reich, sie war vor der Heirat seine Sekretärin. Wir vermuten, dass er sie überhaupt nur geheiratet hat, weil sie zu viel über seine Geschäfte wusste. In Wirklichkeit gehörte ihm „Kaiser & König“ zu 100 Prozent und einige andere Firmen auch. Die „Bäderlandschaft“ wollte er ebenfalls übernehmen. In seiner Eigenschaft als Aufsichtsrat hatte er dafür gesorgt, dass ein Teil der Bäder wegen zu hohem Sanierungsbedarf, den es in Wirklichkeit nicht gab, geschlossen wurden. Das drückt den Kaufpreis.“ Schubert reichte Eva noch eine Tasse Schokolade. „Können Sie mir folgen?“
Eva nickte und schüttelte den Kopf gleichzeitig. „Das erklärt aber nicht, warum ich hier bin und schon gar nicht, was diese Frau Wolf mit der ganzen Geschichte zu tun hat. Ist die denn von der Polizei?“
„So ungefähr“ fährt Schubert fort. „Frau Wolfs Beruf ist es, herauszufinden, was einer zu verbergen sucht, ein anderer aber wissen möchte. Ein solcher Auftrag führte sie vor einiger Zeit ins Unternehmen „Kaiser & König“. Frau Wolf ist eine tüchtige Frau und hat einen sicheren Instinkt, sie erfuhr was ihr Auftraggeber zu wissen begehrte. Dabei stolperte sie über Rosa Müller und ihr Verhältnis zu Frau Wurgemann. Die ganze Angelegenheit kam ihr verdächtig vor. Leider deckte sie das Komplott gegen Sie und Wurgemann nicht rechtzeitig auf. Rosa Müller machte sich verdächtig, als sie Ihnen nacheilte. Als diese dann betont schwankend davon ging, nach ein paar Schritten aber wieder normal ging und dabei eifrig ihr Telefon bediente, nahm Frau Wolf die Verfolgung auf. Und was glauben Sie, wohin Rosa Wolf ging? (Eva zuckte ratlos mit den Schultern.) Direkt zur Villa Wurgemann, dort klingelte sie jedoch nicht oder machte sich sonstwie bemerkbar, sondern setzte sich in einen kleinen Pavillon im Vorgarten. Rosa Müller wusste also, dass niemand zuhause war. Ungefähr eine Stunde später, die ganze Aktion hat also nicht lange gedauert, kam Frau Wurgemann. Und dann wurde es einfach, Frau Wolf brauchte nichts weiter zu tun, als zu lauschen, was einfach war, denn die beiden feierten ausgelassen den gelungenen Coup zur Beseitigung von Wurgemann. Immer wieder erzählten sie sich Einzelheiten, lachten viel und laut und tranken reichlich.“ Schubert verzog angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Dementsprechend waren beide volltrunken als sie schließlich abgeführt wurden, aber ich greife vor. Als Frau Wolf genug gehört hatte, informierte sie ihren Auftraggeber, der seinerseits den Polizeichef informierte, der schließlich mit Ihrer Freilassung einverstanden war, solange sie von der Bildfläche verschwunden blieben, bis die Angelegenheit zur Zufriedenheit aller geklärt sei. Und ein gewisses Stillschweigen müssten Sie am Ende auch noch versprechen.“
„Was ...“ begann Eva, beendete die Frage jedoch nicht.
„Sie werden“ antwortete Schubert stattdessen „sich hier ein paar schöne Tage machen. Dann können Sie wieder nach Hause. Ich zeige Ihnen jetzt ein Gästezimmer. Am besten schlafen Sie ein bisschen oder sehen sich einen schönen Film an. Wenn es Zeit ist zum Essen, rufe ich Sie!“
Eva nickte ergeben, was blieb ihr sonst auch übrig, und folgte ihm nach oben. Sie nahm auch gerne den Arm, den er ihr bot, denn ihre Knie waren ausgesprochen wacklig. „Das glaubt mir niemand.“ murmelte sie kopfschüttelnd vor sich hin.
„Das ist auch gut so“ erwiderte Schubert, „denn Sie sollen es ja auch niemandem erzäh-len.“

Drei Tage später teilte die Polizei offiziell mit, dass Frau Wurgemann und eine Komplizin festgenommen worden waren, die eine wegen Mord, die andere wegen Beihilfe. Herrn Wurgemanns Machenschaften als Aufsichtsratsvorsitzender der „Bäderlandschaft“ wurden publik und der Aufsichtsrat der „Bäderlandschaft“ teilte mit, dass zwischenzeitlich ein seriöser Investor gefunden worden sei und sämtliche Bäder zeitnah und vollumfänglich in Betrieb gingen.

Auf der Heimfahrt vom idyllischen Landgasthof löste jedes Umleitungsschild eine kleine Panikattacke bei Eva aus. Das Auto selbst war wieder tadellos in Ordnung, nicht die kleinste Schramme war zu sehen.

Ein paar Tage später bekam Eva Post. Zwei VIP-Jahreskarten für alle Frei- und Hallenbäder der „Bäderlandschaft“ waren im Umschlag; der Brief selbst war so unpersönlich, wie ein Brief nur unpersönlich sein kann. Sie drehte und wendete den Briefbogen auf der Suche nach einem Hinweis. Sie hielt ihn sogar gegen das Licht und wurde tatsächlich fündig. Sie erkannte das Wasserzeichen; es war das Emblem der Gräfin von Wetterstein. Und da fiel ihr auch ein, wo sie den werten Herrn Schubert schon einmal gesehen hatte. Ja, dachte sie und legte eine der Jahreskarten für Marianna zur Seite, Brauereikönigin müsste man sein.

Drei Monate später erfuhr man über die Nachrichten aus der Finanzwelt, dass das Imperium der Wurgemanns über Nacht zahlungsunfähig geworden war, da sämtliches Kapital unauffindbar von den Konten abgeflossen war. Zuvor hatten sämtliche Mitarbeiter eine Abfindung in Höhe von drei Jahresgehältern überwiesen bekommen. Eine rechtliche Prüfung zur Rückgängigmachung dieses Vorgangs blieb erfolglos, da jede Instanz nur die Rechtmäßigkeit der Abfindungstransaktion bestätigen konnten.


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