Rache


Unschuld XS
Im Schutz der Dunkelheit rotten sich die Geister der unschuldigen Kinder zusammen. Zu Lebzeiten gnadenlos gequält, brachte ihnen erst der Tod die langersehnte Erlösung. Seither treffen sie sich alljährlich zur Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühling, um ungesühntes Unrecht zu vergelten. Alljährlich zelebrieren sie das immergleiche Ritual: Eine wird auserkoren und ausgesandt, das Unrecht zu finden. In diesem Jahr fällt die Wahl auf Barabai.

Zügig lässt sie das verseuchte Wasser des Flusses hinter sich und klettert flink den zerbombten Steilhang hinauf. Oben angekommen sieht sie sogleich den Ort des Verbrechens. Einst gab es hier einen lichten Birkenwald. Nun ist er verbrannt, wie alles auf dem Berg und wie das ganz Land weit und breit. Nur ein kleiner Flecken Grün ist geblieben, nur ein paar Häuser sind noch übrig. Lange verweilt ihr Blick auf dem verwüsteten Land, das Herz schwer vor Trauer.

"Lasst meine Stimme ertönen!" fleht Barabei in stummer Inbrunst. "Lasst meine Stimme ertönen!" Doch keiner der zahlreichen Götter geruht, sie zu erhören. Die Gnade der Sprache wird ihr nicht gewährt. Also kniet sie nieder, wühlt mit den Händen in der kalten Asche bis sie fündig wird. Endlich! Der Beweis! Sie weiß jetzt, was hier geschah, was wieder geschehen würde, wenn sie es nicht verhindern konnte.

Auf dem Platz stehen die wenigen Dorfbewohner, einer neben dem anderen, doch nicht zusammen. Sie sehen sich nicht an, jeder duldet für sich allein. Doch gemeinsam warten sie auf den schwarzen Wagen, und ihre Angst ist erdrückend. Als Barabai zum Widerstand aufruft und zur Rache, hören sie es nicht, aber sie fühlen es und wehren es erschrocken ab. Das ist nicht ihre Art, ist es nie gewesen. Und nun sind sie die letzten, alle anderen sind schon tot, und nun würden auch sie sterben. Es gibt kein Erbarmen, keine Rettung. Es ist sinnlos, denn wo sollten sie hin? Das Land, verdorben für Jahrtausende, und in die Städte können sie nicht hinein.

Der schwarze Wagen senkt sich auf den Platz herab. Gewichtig stieg der Sheriff aus dem Gefährt, unübersehbar prangt der goldene Stern an seiner Brust.
"Da sind die Letzten versammelt, die die Ruhe des Landes stören!", dröhnt die Stimme des Sheriffs unheilvoll durch die angsterfüllte Stille. Die Dorfbewohner zucken zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Der kollektive Aufschrei um Gnade entringt sich ihren Kehlen ungewollt, doch vergebens. Der Sheriff würde tun, weswegen er hiergekommen war. Barabai kann es nicht verhindern.

Gehorsam sinken die Dorfbewohner vor dem Sheriff auf die Knie, falten die Hände zum Gebet. Der Sheriff gibt das Kommando, seine Gehilfe legen an und feuern und feuern, bis auch das letzte Magazin geleert ist.
Der nach Feuchtigkeit lechzende Boden saugt das noch warme Blut begierig auf.
Der Sheriff und seine Gehilfen entzünden die Fackeln und machen sich daran, den letzten Rest des einstmals riesigen Waldes in Brand zu setzen. Damit ist ihre Aufgabe erfüllt und endlich können sie nach Hause.
Durch den Tod zur Hilflosigkeit verdammt, können die Dorfbewohner nur zusehen, wie Wald und Dorf in Flammen aufgehen. Barabai wartet.

Lautlos steigt das Klagelied der Toten auf, steigt empor in die Unendlichkeit des Himmels. Doch die Seelen der Ermordeten können nicht fort. Ein gewaltiger, unbändiger Zorn hält sie fest, ein Zorn, den sie zu Lebzeiten nicht gekannt hatten. Jetzt, da sie tot darnieder liegen, wollen sie Rache, wollen den Tod ihrer Peiniger. Und Barabei zeigt ihnen den Weg. Mit raubtierhaften Klauen, die der Tod ihrer jenseitigen Gestalt vermachte, greifen die Toten durch die unsichtbare Wand und reißen dem Sheriff und seinen Gehilfen die Herzen heraus. Das zwischenzeitlich hell auflodernde Feuer zerstört deren Leiber so schnell, dass ihren Seelen keine Zeit bleibt, sich fortzubegeben.

Die Geister der unschuldigen Kinder applaudieren frenetisch und wirbeln davon. Die Seelen der Dorfbewohner steigen gemächlich zum Himmel hinauf. Regen zieht auf und wässert das geschundene Land.

Bild: SQ

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