Verderbtheit

Margarete von Holftau mahnte schon das zweite Mal zum Aufbruch, ohne dass ihr Mann Notiz davon nahm. Es war schon kurz vor elf  und sie ging gerne vor Mitternacht zu Bett. Also wandte sie sich wieder ihrer Schwägerin und gab noch eine ihrer Tratschgeschichten zum Besten.  Elisabeth Grünbaum war eine willige Zuhörerin, nicht weil es sie interessierte hätte, nein, ganz und gar nicht, sie verabscheute Tratsch und ganz besonders die Art, wie Margarete über Leute herzog. Aber sie hatte einfach das Gefühl, zuhören zu müssen und damit ihrer Schwägerin Aufmerksamkeit zu schenken.
Schließlich stand Margarete auf, zog Hut und Mantel an und hing sich ihre Handtasche über die Schulter. Mantel, Hut und Tasche waren selbstverständlich von ausgesuchter Qualität und standen ihrer Trägerin ausgezeichnet. Ein klein wenig Neid kam auf in Elisabeth, wie immer, wenn sie sich klar machte, dass sie weder die finanziellen Mittel noch den Geschmack hatte, sich so zu kleiden.
„Hugo! Komm jetzt!“ sagte Margarete nun energisch und fiel ihrem Mann ins Wort, der wie sie auch, viel und gerne redete. „Ich möchte gehen, es ist schon spät und du hast genug getrunken!“
Unwillig blickte er auf. "Ich bin hier noch nicht fertig, und ich gehe erst, wenn ich will, denn ich gebe hier das Kommando!" knurrte er und goss sich demonstrativ noch einen weiteren Schnaps ein.

Der jähe Stimmungsumschwung riss Alexander aus seinen Gedanken. Er hatte nicht zugehört, hatte nur rumgesessen, weil seine Eltern das so wollten. Was war den hier los?  Erstaunt sah er sich um. Seine Mutter stand mit gefalteten Händen und den Blick starr auf die Türklinke gerichtet. Traurig sah sie aus, verhärmt und unglücklich. Sah seine Mutter immer so aus? Er glaubte nicht, das wäre ihm doch bestimmt schon früher aufgefallen. Tante Margarete, die sich Hauspersonal und einen Wellnesstag die Woche leisten konnte,  sah zwar weniger verhärmt aus, wirkte aber nicht minder traurig und unzufrieden. Die Frauen glichen sich verblüffend, denn beide wirkten von innen heraus alt.  Auch die Männer glichen sich: Die Krawatten gelockert, die Hemdsärmel hochgekrempelt, beide leicht rot im Gesicht. Sonst trank der Vater doch auch nicht so viel. Und beide schienen nichts von dem Verdruss der Frauen zu bemerken, denn sie gaben sie sich selbstzufrieden und lachten ein ums andre Mal lauthals und schlugen sich prustend auf die Schenkel. Doch auch sie wirkten alt und verschlissen. Obwohl sein Vater deutlich besser wegkam als der Onkel, denn er war deutlich übergewichtig, während der Vater sich seine sportliche Figur einigermaßen bewahrt hatte. Angewidert sah Alexander weg. Das war es, was dabei herauskam: Trautes Heim, Glück allein! Und so sahen alle vier auch aus ... Angesichts der des verlorengegangenen oder nie gefundenen Glücks, wallte sekundenlang so etwas wie Mitleid in ihm auf. Ihre Einsamkeit schien unendlich groß.

Abrupt wandte Margarete sich um und verließ das Zimmer, Elisabeth folgte ihr sofort und bugsierte sie ins Bügelzimmer. Gerade rechtzeitig, denn kaum war die Tür geschlossen fiel ihr Margarete um den Hals und begann zu weinen. Sie weinte so elendiglich und so abgrundtief, dass Elisabeth sich nicht zu rühren wagte, bis die Tränen von allein versiegten. Und dann erzählte ihr Margarete ein lang gehütetes Geheimnis.
Ihr Stolz, einziger Stütze ihres elenden Lebens, war an diesem Abend zerbrochen, so wie sie zerbrochen war an den verdorbenen Leidenschaften ihres Ehemannes. Stolz hatte sie ihren Kummer allen verschwiegen, schließlich hatte sie sich gegen ihre Familie durchgesetzt, um diesen Mann zu heiraten, schließlich war sie eine von Holftau und schließlich hatte sie das ganze Geld in die Ehe gebracht. Ihr Mann hatte seinen Teil davon abgekommen, hatte damit auch gut gewirtschaftet, das konnte sie ihm nicht vorwerfen. Nur in letzter Zeit liefen die Geschäfte nicht mehr so gut, sagte er zumindest und verbrachte ganze Tage außer Haus um sich darum zu kümmern. Doch die Geschäfte liefen glänzend, er verdiente das Geld schneller, als er es ausgeben konnte. Keiner seiner Freunde störte sich daran, dass es schmutziges Geld war, mit dem er um sich warf und sie alle aushielt. Margarete redete und redete und das erste Mal seit sich die Frauen kannten, erzählte sie von sich.
Da klopfte es zaghaft und Karl-Heinz steckte den Kopf herein und hüstelte verlegen. „Hugo wartet im Wagen, soll ich ausrichten, er möchte jetzt fahren und du sollst dich beeilen, soll ich sagen, sonst nimmt er sich ein Taxi!“ Dann zog er den Kopf ganz schnell wieder zurück und machte die Tür zu.

Elisabeth reichte ihr ein Taschentuch und streichelte ihr unbeholfen über Kopf und Gesicht und begleitete sie hinaus und sah still hinterher, wie der Wagen um die Ecke fuhr.
Womit, fragte sie sich, hat Margarete nur dieses Los verdient? Der einst so geliebte Mann war verloren gegangen in den bestrickenden Häusern des Lasters. Er hatte Margarete nach Strich und Faden belogen und betrogen und hintergangen. Sie konnte ihm nicht bieten, was er brauchte. Es waren zu zahme Vergnügungen für ihn, der seinen Geschmack mit sündigen Lüsten verdorben hatte. Es gab keinen Trost, keine Hoffnung, kein Zurück: Für Margarete war seit langem schon ein Traum zu Ende gegangen, der vor vielen, vielen Jahren so wunderschön und so beglückend angefangen hatte; geblieben war ein Alptraum, dem sie nicht entfliehen konnte. Und nun verstand Elisabeth auch, dass Margarete nur deswegen so gnadenlos über andere hergezogen hatte, um sich von ihrem eigenen Leid abzulenken.

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