Die alte Frau von gegenüber

Amagiba, geheimnisvolle Stadt in den Bergen von Leasa, um die sich viele Geschichten ranken, die jedoch so gut wie vergessen sind, da Amagiba schon vor langer Zeit verlassen und dem Verfall preisgegeben wurde. Nun begab es sich aber, dass Alexander Grünbaum eine verwirrende Begegnung hatte, aufgrund derer nun bekannt wurde, warum Amagiba seinerzeit aufgegeben werden musste.


„Oh Verzeihung!“, sagte Alexander, als er seinen Irrtum erkannte. Er hatte, schwungvoll wie immer, wenn er seine Oma im Altersheim besuchte, die Tür aufgerissen, natürlich ohne anzuklopfen, denn seine Oma liebte die Überraschung, wenn er plötzlich im Zimmer stand. „Ich habe mich in der Tür geirrt, ich wollte nicht unhöflich sein!“
„Oh, Sie kommen genau richtig, junger Mann, immer herein und nehmen Sie Platz, ich habe Sie erwartet … vermutlich!“
Aha, dachte Alexander, trat ein und setzte sich in den Sessel gegenüber der alten Dame. Ein Tischen stand zwischen ihnen, darauf eine Karaffe und ein Glas. Wohl war ihm nicht, denn er kannte sie nicht und sie hatte ihn offensichtlich mit jemandem verwechselt. Aber, dachte er, wenn sie sich freut, dass Besuch kommt, dann schadet es nicht, wenn ich einen Moment bleibe. Er öffnete den Mund, um zu fragen wie es ihr ginge und all die Fragen zu stellen, die er auch seiner Oma immer stellte, als sie von selbst anfing zu sprechen, und das in einem Tonfall, als müsse er wissen, wovon sie erzählte.

„Meine Zeit endete“, sagte die alte Frau mit kräftiger Stimme, „im dritten Jahr des Winters. Mein Volk hungerte. Es herrschte unermessliches Elend im Land und viele starben in diesen Jahren. Die Burg des Königs wurde unterstützt vom Satrapen, so dass die Not weniger schlimm war. Der Satrap, das wissen Sie sicher nicht, war der Herrscher von Amagiba, und eigentlich war er unser Untertan, aber so ganz sicher war das nie, denn es hätte genauso gut andersherum sein können.“
„Und aus welchem Land kommen Sie?“, wagte Alexander zu fragen, denn was ein Satrap ist, das wusste er wohl und auch, dass dieses Wort nicht sehr gebräuchlich war, außer in historischen Romanen vielleicht. Sie antwortete nicht, natürlich nicht, das hätte er sich denken können, seine Oma antwortete auch nie, war sie erst einmal in einen Erzählstrom gelangt.
„Die Unterstützung des Satrapen erfolgte heimlich, sonst hätte es Aufstände gegeben, aber für das ganze Volk reichten auch die immensen Vorräte von Amagiba nicht. Andererseits war es auch die Pflicht des Königs, nicht ganz so verhungert auszusehen und allein dadurch Hoffnung zu verbreiten. Wir teilten das Wenige, was wir hatten mit allen, die in der Burg wohnten und denjenigen, die es schafften, zur Burg zu gelangen. Es waren erbärmliche Zustände damals. Wir mussten die Toten in Eishäusern lagern, weil es kein Holz gab, um sie zu verbrennen.“ Sie hielt inne und sah einen Moment aus dem Fenster. „Amagiba, das müssen Sie wissen, war berühmt für seine großartige Vorratshaltung. Das mussten sie schon in der Anfangszeit der Stadt lernen, denn sonst hätten sie dort oben nicht lange überdauert. Im dritten Jahr des Winters jedoch leerten sich auch ihre Kammern. Es war im Sommer, genau am Mittsommertag, da kam der Satrap am frühen Morgen vom Berg herunter. Er wurde begleitet von der Meute mit den Wasserköpfen, die hässliche Körper hatten und dumpf schauten, jedoch über große Kräfte verfügten. Und damit änderte sich alles. Dieser Tag sollte die Geburtsstunde einer neuen Zeit werden, was wir damals nicht ahnten, natürlich nicht, nicht der Satrap, nicht der König. Nicht einmal die klugen Wasserköpfigen hatte eine Ahnung davon, was sie im Begriff waren, zu tun. Doch zunächst ging alles einen Gang. Ich empfing sie alle mit offenen Armen, so wie es meine Pflicht war als Königin. So wie der Satrap nur seine Pflicht tat, als er das Opfer forderte und so wie der König nur die seine, als er es gewährte. Obwohl ich immer gewusst hatte, dass es geschehen würde, blieb mir jetzt, als es soweit war, fast das Herz stehen. Ich wollte weinen, schreien und sie vertreiben, aber natürlich ging das nicht. Was heute geschehen sollte war die einzige Möglichkeit, das Heil zurückzubringen und das Volk zu retten.“ Sie räusperte sich, tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Augenwinkel und sah Alexander ernsthaft an, der daraufhin ebenso ernsthaft nickte und ein ebenso bekümmertes Gesicht machte.
„Das alles“, fuhr sie fort, „geschah vor vielen hundert Jahren, wenn nicht gar vor tausenden, denn von der einst so stolzen Stadt Amagiba ist wenig mehr übrig als ein paar Steine.“
Alexander hörte zu ohne wirklich zu verstehen, während sie von Königsopfern und endlosen Wintern erzählte, alles Dinge, von denen er nichts wusste, die aber vielleicht woanders hätten geschehen können, ohne dass er davon erfahren hätte. Allerdings war er nicht willens zu glauben, dass die Frau so alt sein sollte, dass sie den Fall eines Königreiches vor mehr als tausend Jahren erlebt hatte. Er überlegte kurz, ob er fragen sollte, was es mit der Meute mit den Wasserköpfen auf sich hatte, denn das hörte sich interessant an. Da erfasste ihn ein leichter Schwindel und er schloss für einen kurzen Moment die Augen, während er sich mit beiden Hände an die Armlehne des Sessels klammerte. Und in diesem kurzen Augenblick sah er alles, so als wäre er dabeigewesen: den König und den Satrapen, auch die Meute mit den Wasserköpfen und all die Menschen, die sich im Thronsaal eng aneinander drängten, allesamt halb verhungert. Nur die Königin sah er nicht. Die die Eindringlichkeit des Bildes trieb ihm einen Schauder über das Rückgrat und er riss abrupt die Augen wieder auf.
„Die Prozession zum Sonnentempel“, fuhr die alte Frau fort, „fand jedes Jahr statt und war ein Fest der Freude, nicht nur in der Burg, sondern überall im Land, es wurde getanzt und gesungen, Gaukler traten auf und Wahrsager und überall war Musik. Im Jahr zuvor waren die Feierlichkeiten ausgefallen; es gab niemanden mehr, der die Kraft gehabt hätte, fröhlich zu sein. Und in diesem Jahr fand die letzte Sonnwendfeier statt, was wir damals natürlich nicht wussten. An diesem Tag waren es jedoch keine fröhlichen Lieder, die die Prozession begleiteten, sondern die dumpfen Trommelschläge der Meute. Niemand sang oder tanzte, auch fehlte der Prozession jede Ordnung. Alle hatten sich paarweise zusammengetan und hielten sich an den Händen, unabhängig von Rang und Stand. Der Hunger hatte sämtliche Unterschiede zunichte gemacht. Der Satrap ging voran, gefolgt von der Meute mit den Wasserköpfen, mein König in ihrer Mitte, der hocherhobenen Hauptes dahinschritt. Er war König durch und durch in diesem Augenblick. Alle bemerkten das, nicht nur ich, und die Verehrung, die ihm alle in diesem Moment entgegenbrachten, wogte greifbar durch die Prozession. Doch ich spürte auch seine Angst und ich streckte meine Hände aus, um ihn zu stärken. Und ich spürte auch die Unruhe der Meute, ihre Gier nach Blut, denn das war es, was sie wollten, sie wollten das Blut des Königs. Doch nach außen wirkten sie teilnahmslos und dumpf, wie es eben ihre Art war.“ Sie räusperte sich, trank einen Schluck. Alexander rührte sich nicht.
„Der Sonnentempel in der Burg war einer der schönsten seiner Art, mit einem Dach aus Glas und grazilen Säulen, die es hielten. Der Fußboden war ein Wunderwerk für sich, mit Mosaiken aus feinstem Porzellan und Edelsteinen, die aufleuchteten wie buntes Feuerwerk, wenn die Sonne darauf fiel. Abhängig vom Blickwinkel von dem aus man auf den Boden schaute, sah man Blumen oder Wälder oder Vögel. Das Zentrum war eine goldene Sonnenscheibe, und dort stand mein König, doch nicht ich stand neben ihm, wie all die Jahre zuvor, sondern der Satrap und der war es auch, der ihm den Kelch reichte. Die Meute bildete einen ebenmäßigen Kreis um die beiden und schirmte das Geschehen im Inneren mit ihren Körpern ab. Dicht an dicht, doch immer in gebührendem Abstand zur Meute standen all die anderen. Es war so eng, dass das Atmen schwerfiel, und noch längst waren nicht alle im Saal. Der Sonnentempel fasste nicht viele Menschen, bot eigentlich nur Platz für die königliche Familie, aber indem die Wasserköpfigen anhoben, in schrillen Stimmen zu singen, dehnte sich der Raum soweit aus, dass letztendlich alle hineinpassten, die hineinwollten. Zu mir sagten sie, ich solle weggehen, die Anderen, sagten sie, könnten mich sonst entdecken. Ich verstand nicht, was sie meinten und so blieb ich im Inneren des Kreises, trotz der panischen Angst die ich fühlte, denn sie war rein und unverfälscht und trotz ihres Schreckens von unbändiger Kraft, was mich faszinierte für den Moment bevor ich sie verdrängte, denn es war wenig hilfreich. Selbstverständlich konnte ich meinen König nicht verlassen, nicht in diesen letzten Minuten seines Lebens. Und selbst wenn ich keine Liebe empfunden hätte, so wäre ich doch geblieben, denn das war meine Pflicht als Königin. Doch davon verstand die Meute mit den Wasserköpfen nichts, aber sie ließen mich gewähren.“

„Mein Beileid“, murmelte Alexander und sah sie bedrückt an, offensichtlich war ihr Mann kürzlich gestorben, was sie offensichtlich schwer verwirrt hatte, was nicht ungewöhnlich war, wie er irgendwo gelesen hatte. Doch sie hörte ihn nicht, so verfangen war sie in der Vergangenheit.

„Die Meute mit den Wasserköpfen begleitete das Sterben des Königs mit wildem Trommelschlag und schrillem Gesang, in den die Menschen im Saal einfielen wie im Zwang. Nur der Satrap und ich standen stumm inmitten des Lärms. Zuerst begann der Stab des Königs zu strahlen, dann seine ganze Gestalt, ich konnte spüren, wie das Feld entstand, spürte seine Kraft und da wusste ich, dass er tot war. Ich spürte wie seine Seele den sterbenden Körper verließ und hineingezogen wurde in den chaotischen Strudel des Feldes. Ich hob meine Hände und griff hinaus um ihn zu schützen, doch schon erschien die Präsenz der Meute als goldene Kraft, ruhig und geordnet, was ein Wunder war, wie ich es noch nie gesehen hatte. Auch die Kraft derjenigen, die dem Wahnsinn des Feldes erlegen waren, mischte sich darunter und es waren nicht wenige, denn die Kraft war mächtig in der königlichen Familie. Sie alle umhüllten die königliche Präsenz, formten einen mächtigen Speer, dessen Spitze er war. Und plötzlich war die Verbindung gerissen. Das Kraftfeld verblasste, alle waren fort, hinaufgezogen in den Himmel um die Wolkendecke aufzulösen. Jedoch war die Leere nicht vollständig, ein Teil der königlichen Seele hatte sich im Kraftfeld verfangen und konnte nicht fort. Ich schrie auf vor Pein, denn das war das Schlimmste, was passieren konnte. Ich hatte keine Zeit für Panik, das alles geschah in weniger als einem Augenblick, und natürlich war auch ich nicht ohne Kraft, denn das ist eine Königin niemals und ich tat, was ich konnte  und so streckte meine Fühler aus um ein Tier zu finden, das diesen Teil seiner Seele in sich beherbergen konnte. Alles was ich fand, war ein Wolf, der doch willens war, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich selbst wurde dabei in den Malstrom der Zeit gezogen, so erklärte man es mir später, das ist ein Ort, überall und nirgends, der manchmal an die Oberfläche kommt. Der Strudel machte mich gewissermaßen unsterblich.
Mit dem Verschwinden des Feldes verstummten auch die schrillen Schreie der Übrigen, die von den zusammenschrumpfenden Wänden hinausgedrängt wurden. Den meisten war das recht so, nur einige wenige schauten zurück oder blieben gar.  Die anderen, deren Seelen ins Feld hineingezogen worden waren, lagen tot darnieder, ebenso wie die Meute, die Trommelschlegel noch in Händen. Der Satrap fiel einer partiellen Entwicklungsbeschleunigung zum Opfer und zerfiel in Sekundenschnelle zu Staub. Alle hatten sie ein ungeheuerliches Opfer gebracht und ich verneigte mich vor ihnen. Der tote König sah friedlich aus. Das war mein einziger Trost.“ Die alte Frau seufzte wieder, tupfte sich wieder die Augenwinkel mit dem Taschentuch. Alexander saß reglos in seinem Sessel und sagte nichts.

„Ich sah hinauf zum Himmel durch die Fenster im Dach des Sonnentempels. In mächtigen Schwaden jagten dunkle Wolken dahin und ich verlor mich in diesem Treiben. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, den Kopf des toten Königs auf meinem Schoß, den Blick erhoben. Schließlich wurden die Wolken lichter und das Blau des Himmels und der Glanz der Sonne schimmerte hindurch. Da wusste ich, dass das Königsopfer seine Kraft entfaltet hatte. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und Erleichterung breitete sich aus in meinem Herzen. Aber es war noch nicht zu Ende, doch das wurde mir erst sehr viel später klar. Ich küsste dem toten König ein letztes Mal die Stirn, bevor ich mich erhob um ebenfalls den Tempel zu verlassen. Ich fühlte einen Schwindel und dachte, es käme vom zu schnellen Aufstehen, aber es war mehr, und das verwirrte mich unglaublich. Ich fühlte mich nicht nur schwindlig, ich fühlte einen jähen Bruch im Gefüge der Zeit, oder vielleicht war es mehr das Gefühl, dass etwas hinzukam, was zuvor nicht dagewesen war, etwas, das nicht wirklich zu beschreiben ist. Und da lief ich davon. Nicht nur hinaus aus dem Tempel, sondern immer weiter, hinaus aus der Burg, trotz des Schnees allüberall. Ich lief weiter trotz meiner unzureichenden Bekleidung, trotz Hunger, trotz Kälte. Ich kann nicht erklären, wie es dazu kam, vielleicht drängte mich auch etwas. Und so lief ich und lief, denn mit einem Mal wusste ich, dass auch meine Zeit gekommen war. Nicht dass ich hätte sterben müssen, nein soweit war es noch nicht, aber eine andere Zeit war angebrochen, eine in die ich nicht mehr gehörte. Schließlich folgte ich einem Wolf, der auf seinem Rücken eine Eule trug und sie führten mich in dieses Zimmer, irgendwo außerhalb der Zeit. Und sobald jemand durch diese Tür tritt, bin ich in diesem Zimmer, in den allermeisten Fällen jedenfalls, und ich glaube nicht, dass ich etwas verpasst habe, wenn doch einmal jemand kam und ich nicht da war.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.

„Fast wie bei Dornröschen“, lachte Alexander, „aber glauben Sie bloß nicht, dass ich Sie küsse! Außerdem können Sie mir viel erzählen, ich glaube, Ihnen ist vor Langeweile die Phantasie durchgegangen!“ So wie er das sagte klang das lustig und leicht und war gut geeignet, das leichte Grauen, das sich über ihn gelegt hatte, loszuwerden.
„Das weiß man nicht“, antworte die alte Frau, „das könnte schon sein, aber man weiß es nicht. Eigentlich weiß man nie, was wahr ist und was nicht, denn selbst was man mit eigenen Augen sieht, könnte erlogen sein, ein Schaustück um einen zu betrügen.“
„Ich glaube, ich geh jetzt mal wieder“, sagte Alexander und stand auf. „Ich muss noch nach meiner Oma sehen, entschuldigen Sie bitte nochmal die Störung und einen schönen Tag noch! Wenn ich das nächste Mal meine Oma besuchen komme, dann schaue ich gerne auch wieder bei Ihnen vorbei, wenn Sie das möchten, aber jetzt muss ich wirklich los, ich hab heute Abend auch noch Probe.“
Da sprach die alte Frau weiter, ungeachtet seines Einwands, und obwohl er den Türgriff schon in der Hand hielt, blieb er stehen und hörte zu, wider Willen gebannt von ihren Worten.
„Erst viel später habe ich erfahren, was sich danach zugetragen hatte, aber da war es zu spät, da konnte ich nichts mehr tun und wer weiß, ob ich etwas tun hätte können, meine Zeit war schließlich um und nicht immer muss alles was nach einem kommt schlecht sein, nur weil man es selbst nicht mehr versteht.“
Sie hielt einen Moment inne, nahm einen Schluck und forderte ihren Besucher mit einer Handbewegung auf, sich wieder zu setzen.
„Nicht trinken!“, befahl sie. „Man weiß nie, was passiert, denn Sie sind nicht ganz genau da, wo Sie zu sein glauben, nur so ungefähr in der Nähe und wir wollen die Tür nicht verlieren!“
„Oh, Entschuldigung, ich wollte gar nicht trinken!“, antworte Alexander erschrocken und fragte sich, wo die alte Frau so befehlen gelernt hatte. Nun ja, dachte er, sie hält sich immerhin für eine Königin. Dabei war er nicht mal in die Nähe des Glases gekommen, nur seine eine Hand hatte sich reflexhaft ein wenig bewegt. „Nein, ich wollte nicht trinken, ganz bestimmt nicht, und schon gar nicht aus Ihrem Glas! Ich habe nur das Glas bewundert. Das ist nämlich ein sehr schöner Pokal, der kommt mir bekannt vor, ich glaube, meine Mutter hat so einen ähnlichen, glaube ich wenigstens.“

„Das entfaltete Kraftfeld bewirkte nicht nur,“ fuhr sie fort, ohne auf seine Worte einzugehen, „dass die Wolken sich auflösten. Ganz kurz hatte sich das Feld ein wenig weiter ausgedehnt und hinaus geleuchtet, wohin auch immer, in ein anderes Universum vielleicht, das kann ich nicht sagen, von solchen Dingen verstehe ich nichts. Aber mit diesem Leuchten nach woandershin wurde etwas angelockt, das sich später als Rettung erwies, zunächst, aber noch später, änderte sich das wieder und brachte schließlich großes Leid über die königliche Familie.
Es war ein Mann, der zu Boden fiel, aus halber Höhe, und er landete im Sonnenkreis, direkt neben dem toten König. Aber sicher ist das nicht, denn es war keiner mehr da, der das hätte bezeugen können. Aber man sah ihn aus der Tür des Tempels treten, verwirrt und nackt, außergewöhnlich schön anzusehen, mit Augen wie Diamanten und er trug einen Reif um die Stirn mit einem Stein darin, rubinrot mit goldenen Sprenkeln. Die einen sahen einen Ritter in ihm, wie in den alten Sagen, andere glaubten, es sei ein Engel, denn für einen Moment hätte man gewaltige blaue Flügel hinter seinem Rücken sehen können, die auf- und zugeklappt wären wie bei einem Schmetterling. Wieder andere glaubten, es sei der neue König, was sich letztendlich bewahrheitete. Er nannte sich DARIV und ließ sich bald zum Kaiser krönen, als wäre ihm das Königtum nicht gut genug. Er leitete fortan die Geschicke des Landes und er tat dies erfolgreich, denn er war mit magischen Kräften begabt. Er erkannte, so erzählte man mir später, dass ein Vulkanausbruch das Klima des Landes so verändert hatte, dass immerzu Wolken am Himmel hingen. Damals hätte ich nicht gewusst, was ein Vulkanausbruch ist, niemand in meinem Land hätte das gewusst. Vulkane waren bei uns gänzlich unbekannt, und dass ein Vulkanausbruch auf der anderen Seite der Welt so viel Unheil bringen könnte, das hätte niemand geglaubt. Aber es war gut dass er da war, denn mit dem Wiedererstarken der Sonne begann der Schnee zu schmelzen und nicht nur Leasa, sondern ganze Teile der Welt wurden schlagartig überflutet. Ohne ihn, dass muss man sagen, wären am Ende alle jämmerlich ersoffen, denn ohne Satrap waren die Menschen von Amagiba den Urgewalten gegenüber so hilflos wie alle anderen.
Dazu muss man wissen, dass die magische Kraft der Menschen von Amagiba nicht einfach so eingesetzt werden konnte. Einzig der Satrap war fähig, ihre Kräfte zu bündeln und zu lenken und zum Wohle aller einzusetzen. Kurz bevor ich Königin wurde, unternahm ich die Reise nach Amagiba, um mir, so wie das Sitte war, den Segen des Satrapen für meine Krönung abzuholen. Da konnte ich sehen, wie sie sich an den Händen hielten, ein Feld umstanden und es allein mit Gedankenkraft zum Wachsen brachten. Binnen Tagen war reif, was sonst Wochen gebraucht hätte und das war das Geheimnis ihres Überlebens. Der DARIV nahm jetzt die Stelle des Königs ein und die des Satrapen. Er befahl alle zu sich, die auch nur über das kleinste Fünkchen an Kraft verfügten um das Wasser zu bändigen. Er hätte es sicher auch allein vermocht, denn er war mit einer wahrlich großen Gabe gesegnet, aber er kannte das Land nicht und wusste nicht wohin mit dem Wasser. Als der Kampf gegen die Wassermassen gewonnen war, kehrte niemand mehr nach Amagiba zurück, denn ohne Satrap war ein Leben dort oben nicht mehr möglich. Das also ist der Grund warum es dazu kam, dass Amagiba zerfiel und wie es gelang, dass mein Volk wieder wachsen und gedeihen konnte.
Vollständig ließ sich der Schaden jedoch nicht beheben, denn die Winter in meinem Land sind immer noch lang und die Sommer kurz, aber seit dieser Zeit sind die Sonnenuntergänge geradezu sensationell, das kann ich bestätigen, denn so manches Mal ist es mir gelungen, sie anzuschauen.“

Die alte Frau erhob sich ohne Mühe aus ihrem Sessel, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Die Sonne schien, die Bäume standen in frischem Grün. Schmetterlinge ließen sich kurz auf ihrer Hand nieder, wie um sie zu begrüßen, bevor sie wieder davonflogen. Alexander stellte sich neben sie und sah den Park des Altersheims mit neuen Augen und mit weitem Blick und so sah er ganz weit hinten die wilde, unberührte Natur und einen einsamen Wolf am Waldesrand, auf dessen Rücken eine Eule hockte.
„Aber ich lebe nicht nur in diesem Zimmer, was Sie bestimmt verwundert, wenn Sie mir aufmerksam zugehört haben, ich lebe auch in den Höhlen von Mhatall. Dort lässt es sich gut leben. Es hat eine Weile gedauert, aber ja, nach einiger Zeit kamen andere Menschen, die bei mir blieben, für die ich immer noch die Königin war, für die ich sorgen musste und die sich zu großartigen Trommlern entwickelten. Und nein, sie wurden nicht unsterblich, weil sie mit mir zusammenlebten. Das war es doch, was Sie fragen wollten?“ Sie sah Alexander genau an, und der nickte. „Man wird nicht so einfach unsterblich, natürlich nicht, dazu muss schon viel Unwahrscheinliches gleichzeitig passieren und ganz unsterblich wird man nie, natürlich nicht, nur der Alterungsprozess wird extrem verlangsamt. Ich war noch jung, als ich in den Zeitstrudel geraten bin, jung und hübsch und sehr verliebt in den König und wir hatten vier prächtige Kinder. Aber zurück zum Volk der Trommler, wie sie bald genannt wurden, oder die verrückten Klosterleute, wie sie auch genannt wurden. Mit der Zeit wurde aus den paar wenigen ein richtiges Volk, das sich im Verborgenen hielt, denn der DARIV war mittlerweile zur Bedrohung für die Menschen von Leasa geworden.“
 „Die Klosterleute mit den Trommeln!“, murmelte Alexander und erinnerte sich an etwas, wovon seine Mutter einmal erzählt hatte. „Sie meinen nicht zufällig Laos oder Indien?“ fragte er.
„Nein, ich meine nicht zufällig Laos oder Indien“,  antwortete die alte Frau, ein wenig schnippisch, „ich weiß sehr wohl, was ich sage und wenn ich Leasa sage, dann meine ich das auch so. Ich war schließlich die Königin von Leasa und bin es letzten Endes immer noch, unabhängig vom DARIV, der womöglich die Kaiserkrone schon verloren hat oder davorsteht, sie zu verlieren, aber das ist eine ganz andere Geschichte!“
„Die Sie mir gerne ein andermal erzählen können“, sagte Alexander. „Ich muss jetzt wirklich los.“
„Etwas müssen Sie noch wissen“, fuhr die alte Frau ungerührt seines Einwandes fort. „Der DARIV heiratete meine jüngste Tochter, damit sicherte er sich das Wohlwollen des Volkes. Die beiden bekamen eine Tochter, die sich später dem Vater entgegenstellte, weil sie sich dem Land mehr verbunden fühlte als ihm, was sich der DARIV nicht gefallen ließ. Er verbannte sie und niemand weiß, wo sie geblieben ist.“
„Aber sie erwarten jetzt nicht von mir, dass ich sie finde? Oder warum erzählen Sie mir das?“ Alexander merkte, dass er ungeduldig wurde. Er wollte wirklich gehen wollte. Er hatte hier schon zuviel Zeit vertrödelt.
„Nein, junger Mann, natürlich sind, seien sie nicht albern. Ich wollte nur, dass Sie das wissen, mehr nicht. Für den Fall, dass Sie ihr zufällig begegnen.“ Sie lachte so, als wäre das nur ein Scherz, aber Alexander hatte so eine Ahnung. „Gehen Sie jetzt mal zu Ihrer Oma, und danke, dass Sie mir zugehört haben, und wenn Sie wieder mal in der Nähe sind, dann kommen Sie ruhig rein."

Zwei Wochen später

„Feierabend , junger Mann, die Besuchszeit ist zu Ende“, sagte die Altenpflegerin, die immer so nett zulächelte, woraufhin Alexander jedesmal errötete und sich nichts zu sagen traute, obwohl er jedes Mal hoffte, sie wäre es, die den Feierabend einläutete und nicht die andere, die ihn immer so unverschämt anstarrte. So fix wie er jedesmal hinauslief bekam er nie mit, dass sowohl die eine als auch die andere in lebhaftes Gelächter ausbrachen über seine „ach so köstliche Schüchternheit“. Seine Oma lachte jedesmal herzhaft mit, obwohl man ihr zugute halten musste, dass sie nicht wirklich wusste, warum gelacht wurde. Doch diesmal rannte er nicht davon. Er verabschiedete sich gemächlich von seiner Großmutter, während die Pflegerin schon das Bett abdeckte und die Vorhänge zuzog.
„Tschüss Omi, und für Sie einen schönen Abend“, sagte er zu der jungen Pflegerin gewandt und wurde prompt rot bis über die Ohren. „Wenn es recht ist, schaue ich noch schnell bei der Dame gegenüber rein. Oder schläft sie schon?“
„Hä?“, fragte die junge Pflegerin erstaunt und hielt inne in ihrem Tun. „Gegenüber ist die Wäschekammer!“
„Wäschekammer?“, wiederholte Alexander und schaute verwirrt. „Das kann nicht sein! Letztes Mal habe ich mich dort ganz nett mit einer alten Dame unterhalten und ihr versprochen, dass ich wieder reinschaue!“ Er stürmte hinaus, die zwei Schritte über den Flur und rüttelte an der Türklinke. Abgeschlossen! Hilflos dreht er sich um, aber da kam schon die Pflegerin und schloss auf. „Sehen Sie“, sagte sie lächelnd, „die Wäschekammer. Niemand wohnt hier, gibt ja noch nicht mal ein Fenster!“
Alexander fuhr sich mit beiden Händen in die Haare, schüttelte mehrmals den Kopf, schaute zum Zimmer seiner Oma und dann wieder in die Wäschekammer. Und rannte schließlich einfach davon.  
„Ach Schwester Maria!“, sagte Sieglinde Grünbaum, „mein Enkelsohn hat eine blühende Phantasie, hatte er schon immer, es wäre wohl besser, das würde bald weniger, jetzt wo er doch schon erwachsen ist und fast fertig mit dem Studium …“ Der Faden, der sie für einen Augenblick mit der Gegenwart verbunden hatte riss ab und sie kehrte schweigend in die Vergangenheit zurück.

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