Die Herrin der Festung am Meer

„Du wusstest es!“ schrie Suna voller Wut, „ du wusstest, dass SIE mir einen Sohn von Achat-Cor als Gemahl zugedacht hat, gib es zu, du wusstest es, wie konntest du das zulassen?“ Sie schubste Mandive so heftig, dass diese das Gleichgewicht verlor und rücklings hinfiel. Erstaunt über ihre eigene Kraft streckte Suna die Hand aus. „Es tut mir leid, hast du dir weh getan? Lass mir dir beim Aufstehen helfen.“ Mandive stieß die angebotene Hand von sich und sprang mit einem Satz auf die Beine. „Bleib bloß weg von mir, bevor noch ein Unglück geschieht!“ Suna schaute pflichtschuldigst verlegen drein und murmelte eine kaum verständliche Entschuldigung. Doch dann kam ihre Wut ungebändigt wieder zum Vorschein. „Nein! Nein! und nochmal nein! Das kann  SIE mir nicht antun. Ich kann diesen Menschen nicht zum Gemahl nehmen, einen 5. Sohn, einer fremden Königin, welch eine Schande, was werden die anderen über mich lachen, niemals, niemals werde ich zustimmen, ich werde ...“ Ein Blick in Mandives versteinertes Gesicht ließ sie inne halten. „Du wusstest es“, murmelte Suna, „du hast es nicht verhindert, obwohl …“
„Schweig“ befahl Mandive, „schweig und sprich nie wieder davon! Die Königinnen haben es beschlossen und es ist eine große Ehre.“
„Aber“, Su stampfte zornig, „er ist nur der 5. Sohn und noch nicht einmal ein leiblicher, ein Bauerjunge aus den Bergen. “Schweig!“ befahl Mandive abermals. „Die Kraft ist stark in ihm und deswegen wurde er ausgewählt. Und jetzt hör gut zu, du dumme Gans, denn du weißt nicht alles und so werde ich dir sagen, was noch fehlt: Du, Prinzessin von Sargon und 1. Tochter Am-Achat und der 5. Sohn der Achat-Cor werden die Festung am Meer als Lehen beider Königreiche erhalten und dort bleiben. Du wirst den Königinnen die Töchter gebären, die benötigt werden, um das Gleichgewicht in den Reichen aufrecht zu erhalten, und den einen oder anderen Sohn. Du wirst das tun, wozu du geboren und erzogen wurdest, nämlich deiner Königin zu gehorchen und alles zu tun, was sie dir befiehlt. So wie auch ich alles tue, was sie mir befiehlt, denn die Weisheit der Am-Achat ist grenzenlos und ihre Güte unermesslich. Dafür solltest du dankbar sein. Und jetzt hör auf, die dumme Gans zu spielen, denn du wirst ein eigenes Reich haben und wenn du klug bist, wird es blühen und gedeihen und die Menschen werden dich verehren, als wärst du selbst eine Königin. Denke darüber nach, denke wirklich darüber nach, denn vermählt zu werden ist dein Schicksal und mit jedem anderen Mann aus dem Reich hättest du weniger Macht gewonnen, als mit diesem aus dem fremden Land.“
Da erst bekam Suna ihren Zorn in den Griff, er verpuffte als sie begriff, was Mandive ihr wirklich erzählt hatte. Erneut vor ihr auf die Knie: „Verzeih, geliebte Schwester, verzeih mir, ich war so gedankenlos!“
Mandive half Suna wortlos in den Sattel, sie hatte alles gesagt, was zu sagen war.

Es war vor drei Jahren gewesen, die Annäherung der beiden Länder war soweit fortgeschritten, dass eine Abordnung von Ministerinnen nach Bilagard reiste und eine Kompanie der Stadtgarde begleitete sie. Sie hatte die Reise sehr genossen, denn Bilagard war flacher als ihre Heimat, die Hauptstadt Biala anders, doch nicht weniger prächtig. Der Palast der Königin jedoch hatte wenig von einem Palast, es war mehr wie ein Dorf und lag außerhalb der Stadt. Die Konferenz dauerte mehrere Wochen und ziemlich am Anfang war sie über einen schlaksigen Jungen gestolpert, der ihr vor die Füße gefallen war. Sie hatte ihm aufgeholfen und sie waren ins plaudern gekommen, etwas, was Mandive sehr fremd war und doch hatte sie es genossen. Zwei Tage später wurde der junge Mann vorstellig in ihrer Unterkunft, stellte sich vor als Marco und bot an, ihr das Land zu zeigen. Es war, als machte sie seine Anwesenheit leichtsinnig, was sie befremdete, denn der Leichtsinn war ihr ausgetrieben worden, als sie für den Dienst in der Stadtgarde ausgewählt worden war. So übergab sie also jeden Vormittag das Kommando an ihre Stellvertreterin und zu Fuß, zu Pferde oder zu Wagen erkundete sie mit dem Marco zusammen Städte und Dörfer und das ganze Land. In dieser Zeit plauderte und lachte sie wie damals, als sie noch das unbeschwerte Leben einer kindlichen Prinzessin gelebt hatte. Nach und nach verliebte sie sich in ihn, sie merkte es wohl, nahm es aber nicht ernst, denn es war die Leichtigkeit seines Wesens, das sie anzog, die Schönheit seines Körpers, die sie in Wallung brachte und die Kraft seines Körpers, die sie bewunderte, denn trotz seiner Klugheit war er ein Kämpfer, ganz wie sie und das gefiel ihr am Besten. Als Gardistin war sie frei in der Wahl ihrer Bettgefährten, aber diesen Schritt tat sie nicht aus dem Gefühl heraus, es wäre ungebührlich in diesem Land, es am helllichten Tag zu tun. Und auch er machte keine Anstalten und traf auch keine Verabredung für die Nacht. Doch aus der anfänglichen Verliebtheit war mit der Zeit Freundschaft geworden und daraus eine tiefe Liebe entstanden.
Monate später, als ihr die Königin eröffnete, mit wem sie Suna zu vermählen gedachte, begriff sie, dass er es damals schon gewusst haben musste. Sie verstand nun, warum er auf körperliche Lustbarkeiten verzichtet hatte, sie verstand nun, dass auch er sie liebte und schätzte. Einen Tag später eröffnete ihr die Königin, dass sie sich zur Ausbildung als dritte Tochter und als Erbin qualifiziert hatte. Spätestens jetzt wäre eine Liebschaft gescheitert, allein aus Mangel an Zeit aufgrund ihrer vielfältigen Verpflichtungen. So aber trug sie die Liebe zu Marco im Herzen und bewahrte sie wie ein kostbares Juwel. Solange die Befriedung der Reiche nicht sicher verankert war, gab es nichts, was sie noch hätte tun können. Die Königin hatte um diese Liebe gewusst,  und sonst so großzügig, hatte sie diesmal weder auf ihre noch auf Sunas Gefühle  Rücksicht genommen. Alles was den Friedenschluss der beiden Länder diente, musste getan werden. Ssolange es keinen Frieden gab, solange Suna nicht genügend Töchter und Söhne hatte, solange durfte sie nicht mehr an ihn denken. Sie musste alles in ihrer Machte stehende tun, damit Suna ihre Pflicht erfüllte.

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