Die letzten ihrer Art

Val erwachte, zunächst ohne Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Stunden. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, schaute verwirrt auf seine Hände, die blau gefärbt waren vom Licht, das ihn umgab. Dann schaute er hoch und sah den Drachen, groß und mächtig, schwer verwundet, dem Tode nahe.
„Wir flehten die Götter an und beteten um die Vernichtung der Geflügelten“, hörte er die Stimme seiner Urgroßmutter in Gedanken. Unweigerlich drehte sich Val um, ihm war, als stünde sie direkt hinter ihm. Ein freundloses Lachen kam über seine Lippen. Sie war tot, gestorben im letzten Winter, weit über 100 Jahre alt.
Der Drache sah ihn an und Val schaute zurück. Sie war die Königin, die letzte ihrer Art. Er fühlte ihre Präsenz mit jeder Faser seines Körpers, er fühlte ihren Schmerz, ihre Schwäche, ihre Not. Dieser Drache hatte niemandem etwas zuleide getan.

„Die Geflügelten mussten vernichtet werden“, so erzählte die Urgroßmutter stets voller Hass, seit er sich erinnern konnte, „denn sie töteten unserer Töchter und Schwestern. Die Priester der Geflügelten bereicherten sich daran, ihre Tempel waren voll von Perlen, die sie dafür bekamen. Es waren tropfenförmige, schwarzglänzende Perlen, die einzigartig waren und denen HGeilkräfte innewohnen sollten. Sie wurden gelagert in riesigen Bottichen, darin suhlten sich die Priester, während das Volk litt. Am Ende waren es meine Soldaten, die diese widerwärtigen Priester zur Strecke brachten. Am Ende war es mein Heer, das ausgesandt wurde, die Geflügelten zu vernichten. Und es ist ihnen gelungen, wie alle wissen, denn seither sind die Töchter unserer Stadt sicher und frei. Also sei auch du dankbar, hörst du, sei dankbar, dass ich die Stadt mit Brandmauern umgab, die jedem Feuersturm der geflügelten widerstehen konnte. Sei dankbar, dass ich das Denkmal der Schande auf dem Marktplatz zerstört habe. Sei dankbar und froh, dass du in dieser Stadt leben kannst, deren Mauern jede Gefahr abwenden und beklage dich nicht, dass du die Stadt nicht verlassen kannst."
Seit er sich erinnern konnte, erzählte die Urgroßmutter wieder und wieder mit flammendem Blick und voller Hass von ihrem Kampf gegen die Drachen. Lange Zeit bewunderte er sie für ihren Mut und ihre Entschlossenheit, bis er Jahre später begriff, dass das alles nicht stimmte. Die Mauern der Stadt waren so sehr viel älter als seine Urgroßmutter, die Ära der Drachenpriester lag schon viele Jahrhunderte zurück. So nahm er Abschied von der Heldin seiner Kindheit und hatte fürderhin nur Mitleid übrig, denn sie selbst zweifelte niemals am Wahrheitsgehalt und duldete nicht, dass er daran zweifelte.

Seiner Urgroßmutter hätte das sicher gefallen, dass wieder ein Heer gegen die Geflügelten ausgezogen war, auch wenn dies nicht freiwillig geschehen war. Fremde Kriegsherren hatten die Stadt erobert und als Tributleistung dieses Heer gefordert. Val hatte sich freiwillig gemeldet, denn es bedurfter Freiwilliger, wenn nicht alle unter Zwang gehen sollten.
In der Stunde des Abschieds hatte sein Vater ihm erzählt, dass ein König ermordet worden war. Val hatte, wie alle anderen auch, nie an der Unsterblichkeit der Könige gezweifelt und musste nun erfahren, dass es sich bei denjenigen, die für das Königtum ausgewählt wurden, um sterbliche Menschen handelte.
„Stirbt ein König,“ so erklärte ihm der Vater, „wird ein Königsanwärter zum König gemacht, und niemand merkt einen Unterschied, denn nach der Einweihung sind alle gleich. Die Anwärter werden an der Schwelle zum Erwachsenwerden geprüft, so wie auch du geprüft worden bist, denn du bist der Erstgeborene. Doch dich hatte man als ungeeignet befunden, und an dieser Schmach habe ich viele Jahre schwer getragen und es stets geheimgehalten, aber nun kann ich dir davon berichten, denn ich glaube nicht, dass einer von euch zurückkehren wird, denn zu verwegen ist das Ziel. Aber so kann ich die Familie von der Schmach reinwaschen, allein deswegen, weil du dich freiwillig gemeldet hast. Dein Dienst am Volk wird eingetragen in das Buch der Familie, dann ist deine und unsere Ehre gerettet und niemand muss jemals erfahren, dass du nicht geeignet warst, in die Riege der Königsanwärter aufgenommen zu werden.“ Und so war er losgezogen mit dem Segen der ganzen Familie, gut ausgestattet mit allem, was einen Feldzug bequem machen konnte und nützlich war, nicht zuletzt deshalb hatte er durchgehalten bis zum Schluss. Die Kriegsherren waren am Ende geflohen und die Soldaten hatten sich am Ende in ihrem Wahn gegenseitig umgebracht.

Der letzte Mensch und der letzte Drache schliefen, eingehüllt in einen Heilzauber wie in eine Decke, und verwoben ihre Träume zu einem, erfüllt von einem tiefen Verständnis für die Natur des anderen.

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