Hühnerglück

Mitwirkende
eine Henne, genannt Lisl
ein Hahn, genannt Franz
ein Regenwurm
eine Ente
ein Fuchs
zwei Menschenkinder, genannt Susi und Thomas

Es war ein wunderbarer Morgen: die Sonne schien, aber nicht zu heiß, der Wind wehte, aber nicht zu sehr, die Vögel sangen, aber nicht zu laut und überdies war es Sonntag. Lisl und Franz scharrten fleißig im Hühnerhof nach Würmern, doch wie es schien, waren alle weg. Da entdeckten eine Lücke im Zaun, grade groß genug, dass sie sich hindurchzwängen konnten. Und dann ab in den Gemüsegarten! Dort, das wussten sie schon, gab es reichlich Würmer und Schnecken. Nachdem sie sich satt gefressen hatten, spazierten sie am Gartenzaun entlang und wie es der Zufall so wollte, entdeckten sie auch hier einen kleinen Durchschlupf. Flugs krochen sie durch das Loch und erkundeten, scharrend und pickend, die Wiese jenseits des Zauns. Als sie genug davon hatten, legten sie sich in eine Kuhle unter dem Haselstrauch, dösten vor sich hin und freuten sich des Lebens.
„Ich möchte so gerne einmal die ganze Welt sehen“, sagte Franz träumerisch, mehr zu sich selbst.
„Oh ja, das wäre schön und nichts leichter als das!“ sagte Lisl. Franz schaute sie mit weit aufgerissenen Hühneraugen an. „Ja schau nur, aber ich habe die Menschenkinder belauscht. Da hinten am Waldrand, so sagen sie, gibt’s einen Felsen, von dem aus kann man bis ans Ende der Welt schauen. Das war kurz bevor du zu uns gekommen bist. Ich wollte, dass sie mich mal mitnehmen, aber sie haben mich nicht verstanden. Die Dummen, sie dachten ich wäre krank und holten sogar den Tierarzt. Die Menschen verstehen uns Hühner einfach nicht.“
„Und wie kommt man da hin zu diesem Waldrand, weißt du das auch?“ fragte Franz, den der Gedanke an das Ende der Welt nicht mehr losließ.
„Nichts leichter als das“, erwiderte Lisl ein wenig hochmütig, stand auf aus ihrer Kuhle und schüttelte sich den Staub aus dem Gefieder.
„Wie?“ fragte Franz nach einer Weile, als Lisl nichts weiter sagte, weil sie damit beschäftigt war, einen weiteren Regenwurm aus dem Boden zu zerren.
„Bis zum Bach, dann über die Brücke und dann immer geradeaus, so ungefähr jedenfalls“, gab Lisl kleinlaut zu und ließ dabei den Regenwurm los, der sich beeilte, wieder in sein Loch zu kriechen. „Halt, du Wurm, bleib da und sag mir, wie man zum Felsen am Waldrand kommt.“
„Das weiß ich nicht“ flüsterte der Regenwurm, „da müsst ihr eine Maus fragen, die kommen viel rum in der Welt, oder eine Ente, die haben voll den Überblick, oder … ihr fragt den Fuchs, der weiß Bescheid!“ Ein kurzer Schlängler noch und der Wurm flutschte in sein Loch zurück. Lisl sah verdutzt hinterher.
„Ob wir dann bis nach Afrika sehen können?“ fragte Lisl.
„Selbstverständlich“; antwortete Franz mit viel Begeisterung, „bis nach Afrika und sogar bis zum Feld von Bauer Hühner!“
„Oh!“, staunte Lisl, „das ist aber weit!“ Den Bauer Hühner kannten alle Hühner im Hühnerhof, denn von dort war Franz zu ihnen gekommen.

„Also los dann“, bestimmte Lisl, „der Weg ist weit und das Ziel ist hold und bevor es dunkel wird, will ich wieder im Hühnerhof sein.“
„Also dann“, erwiderte Franz ebenso bestimmt. „Hinaus, hinaus, wo ist die Maus? damit sie den Weg uns weise!“
So tippelten sie forsch voran und waren bald an der Brücke, die über das Bächlein führte. Sie blieben stehen und schauten auf das sprudelnde Wasser tief. Recht mulmig wurde den beiden, doch zugeben würden sie das nicht. Da kam eine Ente schaukelnd herangeschwommen, das sah lustig aus, und gar nicht so, als ob man sich vor den wilden Wasserfluten des Bächleins fürchten musste.
„Halt!“ gackerten beide wie aus einem Schnabel. „Ente! Wo geht’s zum Felsen am Waldrand?“
„Zum Wald? Richtig? Wichtig!“ schnatterte die Ente, „schnell über die Brücke, dann den Weg entlang und dann …“ Was sie sonst noch sagte, falls sie etwas sagte, verstanden sie nicht mehr, denn die Ente war schon weitergeschaukelt.
Also plusterten sich beide einmal kräftig auf und rannten dann so schnell sie konnten über die Brücke. Und tatsächlich, da war ein Weg inmitten der Wiese und diesem folgten sie. Immer wieder schauten sie sich an und gackerten fröhlich: Sie waren unterwegs, um sich die Welt anzuschauen und das gefiel ihnen sehr. Allmählich wurde der Weg immer schmaler, hörte schließlich ganz auf, die Halme am Wegrand wuchsen immer höher und dichter. Ab und an flatterten sie mit den Flügeln und sprangen so in die Höhe, immer abwechselnd, nur um zu sehen, dass sie sich mitten in einem Getreidefeld mit enormen Ausmaßen befanden. So kämpften sie weiter, quetschten sich an den Halmen entlang, bis sie nicht mehr konnten.
So saßen sie völlig schlapp im Getreidefeld und wurden immer mutloser. Franz kullerte gar ein Tränchen oder zwei aus den Äuglein, doch Lisl küsste die Tränen weg und tröstete ihn. Plötzlich raschelte es im Feld, die Hühner schreckten hoch und flatterten aufgeregt, doch es war nur eine kleine Feldmaus.
„Hallo, du Maus, wir wollen zum Felsen am Waldrand, ich glaube, wir haben uns verlaufen, kennst du den Weg?“ fragte Lisl.
„Wie jetzt?“ piepste die Maus.
„Den Weg zum Felsen am Waldrand“ wiederholte Franz langsam und plusterte sich zu seiner vollen Hahnesgröße auf.
„Ach, zum Felsen am Waldrand? Da habt ihr euch aber viel vorgenommen. Das ist gefährlich, im Wald gibt es wilde Tiere“, piepste die Maus recht laut. „Wollt ihr das wirklich?“
„Wir wollen doch so gerne die Welt sehen“, antwortete Lisl.
„Also dann, Genossen, folgt mir, ich bringe euch ans Ende des Felds, von dort aus könnt ihr den Wald sehen und vielleicht auch den Felsen, ich weiß das nicht so genau, ich halte mich fern von solchen Dingen, schaut, hier ist ein kleiner Mäusepfad, auf den müsst ihr achten, aber Acht geben, dass ihr nicht im Kreis lauft, denn Mäusepfade sind tückisch, und hier ist ein Halm schon reif.“ Die Maus hielt inne und knabberte den Getreidehalm unten ab und gemeinsam vertilgten sie die Körner aus der Ähre. Dann ging es hopplahopp durchs Feld, immer der Maus hinterher, dem Mäusepfad folgend, in Kurven und Kreisen, und die Maus plapperte in einem fort.
Dann wuchsen die Halme wieder in größeren Abständen und dann waren sie aus dem Feld heraus. Bevor Lisl und Franz sich bei der Maus bedanken konnten, war diese blitzschnell fortgeflitzt und im Feld verschwunden.
„Nun denn“, sagte Lisl, „soweit so gut, dann wollen wir mal weiter, schau, da hinten ist der Wald, da sind die Bäume so hoch und ganz viele sind es. Einen Felsen kann ich nicht sehen. Wie sollen wir nur den Felsen finden?“
„Wir werden ihn schon finden“ versicherte Franz mit zusammengekniffenen Augen, der weit hinten nur eine große Dunkelheit sah, denn er war ziemlich kurzsichtig.

„Stehenbleiben!“ bellte plötzlich eine Stimme hinter ihnen und die Hühner blieben stocksteif stehen. Ein riesiger Kopf schob sich langsam in ihr Blickfeld. „Ja, wen haben wir denn da? Was machen denn so ein paar Hühner in meinem Revier?“
„Wir wollen so gerne das Ende der Welt sehen und suchen den Felsen am Waldrand“, antwortete Franz, der sich zuerst wieder gefasst hatte. „Kennst du den Weg zum Felsen? Und wer bist du überhaupt?“
Der Fuchs lächelte und zeigte dabei seine Reißzähne, so dass den beiden Hühnern die Knie weich wurden, denn er solche Zähne hatte der Hofhund auch und vor dem nahmen sie sich in Acht.
„Ich bin der Fuchs“, antwortete der Fuchs, „und natürlich kenne ich den Weg zum Felsen, soll ich euch hinbringen?“
„Da haben wir aber Glück gehabt, dass wir dich treffen, der Regenwurm hat uns empfohlen, den Fuchs zu fragen, und jetzt bist du da und kannst uns führen“ sagte der Hahn erleichtert.
„Es ist nicht einfach, den Weg zu finden“, sagte der Fuchs, „aber folgt mir nur nach, ich werde euch zum Felsen führen.“
„Ich habe Hunger“, gackerte Lisl da und Franz knurrte auch schon der Magen, die paar Körner, die die Maus ihnen überlassen hatte, hatten sie nicht satt gemacht, und so eine weite Wanderung machte sehr hungrig.
„Das trifft sich gut“, antwortete der Fuchs, „ich wollte auch gerade etwas zu fressen finden. Kommt nur mit mir, ich lade euch ein.“
„Vielen Dank“, sagten die beiden Hühner, „was frisst du denn am liebsten, du Fuchs?“ fragten sie ihn.
„Hühner – ähem – also – Hühner wissen natürlich nicht, was Füchse gerne fressen. Also, meine Leibspeise sind Körner, Salat und Regenwürmer …“ Das war glatt gelogen, Franz und Lisl ahnten nicht, dass der Fuchs sie fressen wollte. Zum Glück, muss man eigentlich sagen, denn sonst wären sie davongerannt und der Fuchs hätte sie sogleich verspeist. So aber folgten die ahnungslosen Hühner dem Fuchs, der gemächlich vorausging und links und rechts des Weges auf dies und das aufmerksam machte.
„Sind wir bald da?“ fragte Lisl, die keine Lust mehr hatte, noch weiter zu wandern und Franz war vor Müdigkeit ganz langsam geworden und ein ganzes Stück zurückgefallen.
„Nicht mehr lange, liebe Freunde!“, sprach der Fuchs, „gleich da vorne wohne ich, da machen wir eine kleine Pause, bevor es dann weitergeht und dann ist es auch nicht mehr weit! Wir sind schon im Wald angekommen, und der Fels ist da vorne.“
Und wie sie um eine Kurve bogen, war da eine kleine Erhebung im Waldesboden, darin war ein Loch und davor stand ein kleiner Tisch, darauf stand ein Teller, daneben lagen Messer und Gabel. Doch es gab nur einen Stuhl. Der Fuchs grinste und die Hühner bekamen so eine Ahnung und drängten sich ängstlich aneinander.

In der Ferne, doch rasch näher kommend, ertönte nun Gelächter, eindeutig Menschgelächter, eindeutig waren Menschen hierher unterwegs, die lachten und sich unterhielten. Franz und Lisl schauten sich an, und machten einen Schritt rückwärts, den Fuchs ließen sie dabei nicht aus den Augen. Der Fuchs, so erkannten sie, fürchtete die Menschen, sie jedoch nicht!
Doch der Fuchs wollte deshalb nicht auf sein Mittagessen verzichten. Mit der Vorderpfote fegte er die beiden von den Beinen und rollte sie in eine Vertiefung einer Baumwurzel und schob einen Ast darüber.
„Haltet still und bleibt versteckt!“ beschwor der Fuchs die Hühner, „da kommen Menschen, schlimme und gefährliche Menschen, die fressen euch auf, wenn sie euch erwischen!“ Dann schob er noch einen Ast über die Hühner, bevor er sich selbst im Fuchsbau verkroch.

Lisl und Franz konnten sich kaum bewegen. Mühsam wendeten sie sich und zwängten ihre Köpfe durch die Äste. Sie waren gefangen! Der Fuchs wollte sie fressen! So war das! Der Regenwurm hatte sie angelogen! Der Regenwurm hatte genau gewusst, dass Füchse nichts lieber taten als Hühner zu fressen.
„Ach!“ jammerte Lisl, „wären wir doch nur im Hühnerhof geblieben!“ Vor lauter Angst und Wehe gackerte Lisl lauthals und Franz krähte grad so laut. Sie tippelten mit den Füßen und flatterten mit den Flügeln und gackerten und krähten in einem fort. Mit einem Mal bewegte sich der eine Ast ein wenig. Da gackerte Lisl noch lauter und flatterte noch schneller, Franz krähte noch wilder und tippelte noch schneller und plötzlich waren die beiden Äste so weit auseinander, dass sie sich durch die Lücke zwängen konnten, was ihnen schnell gelang, denn darin hatten sie viel Übung.
Wie sie dasaßen und nach Luft schnappten fiel ein Schatten über sie. Starr vor Schreck hielten sie die Luft an. Kam da ein Hühnerhabicht angeflogen? Mit dieser Gefahr kannten sie sich aus, und so machten sie sich ganz klein und die Augen zu und bewegten sich nicht. Und plötzlich ertönte Menschengelächter direkt neben ihnen.

„Was macht ihr den hier?“ fragten Susi und Thomas und lachten Tränen über die auf den Boden geduckten Hühner.
„Was fällt euch ein, uns auszulachen?“, gackerte Lisl empört, rappelte sich auf und glättete würdevoll ihre Federn. „Wir sind grade nochmal davongekommen und die lachen nur!“
„Was meinst du, Thomas, sollen wir die Hühner mitnehmen? Hier neben dem Fuchsbau sollten wir sie nicht lassen“ schlug Susi vor und Thomas nickte.
„Ja, ja, ja!“ krähte Franz. „Auf jeden Fall! Wir kommen mit!“
Kurzerhand schnappte sich jeder ein Huhn und steckte es sich in den Rucksack. Natürlich ohne die Rucksäcke zu verschließen, damit die beiden rausschauen konnten. Das war vielleicht eine Freude. Von hier oben hatten sie eine tolle Aussicht, denn nun konnten sie wirklich ganz weit sehen, den Weg, den sie gekommen waren und ganz hinten ihren Hühnerhof. Die Hühner gackerten vor Begeisterung ohne Unterlass, aber ganz leise, denn sie wollten die Menschen nicht stören, die ein Wanderlied nach dem anderen schmetterten und forsch voranschritten.
Nach einer Weile hörten die beiden Menschen auf zu singen. Ihre bisher gleichmäßigen Schritte wurden schwankend, unregelmäßig.
„Wir fliegen!“ kreischte Lisl mit einem Mal, als sie nach unten schaute und bemerkte, dass der Boden unter ihnen zurückblieb.
„Quatsch, Quatsch und nochmal Quatsch!“ empörte sich Franz. „Menschen können nicht fliegen! Das weiß ich ganz sicher!“
Natürlich waren Susi und Thomas nicht geflogen, sie waren geklettert, und zwar auf einen Felsen, der am Waldrand stand. Und ja! Genau! Es war ganz genau der Felsen, zu dem die beiden Hühner hingewollt hatten.

Susi und Thomas nahmen die beiden Hühner aus den Rucksäcken, ermahnten sie, nicht wegzufliegen, setzten sich an die Felskante, ließen die Beine baumeln und schauten ins Tal hinab.
Die Hühner schauten ebenfalls, gackerten leise und waren glücklich. Bis zum Ende der Welt zu schauen war viel schöner, als sie sich vorgestellt hatten. Es war einfach grandios. Bis Afrika konnte man von hier aus nicht schauen. Machte allerdings überhaupt nichts, denn Afrika hätten die Hühner sowieso nicht erkannt.
Dann packten die Susi und Thomas ihre Butterbrote aus und teilten diese mit den Hühnern. Lisl und Franz pickten die Krümel, die die beiden Menschen reichlich fallen ließen. Satt und zufrieden kuschelten sie sich aneinander, glücklich darüber, dass ihr Ausflug ein so gutes Ende genommen hatte.
Der Fuchs allerdings saß in seinem Bau und ärgerte sich grün und blau, weil ihm die Hühner entwischt waren.

Ende

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