Eis und Schnee

Matt vor Hitze lagerte eine Gruppe von Kindern im Schatten der großen Platane im Schlossgarten. Sie sprachen wenig, bewegten sich kaum und träumten von Eistee und Vanilleeis, denn nur so, da waren sich alle einig, ließ sich die Hitze aushalten.
Immer wieder spielten sie Schnipp-Schnapp um die Aufgabe, Eis und Tee aus dem Schlosskeller zu holen. Dafür gab es einen besonderen Korb mit Deckel, der alles gut kalt hielt, was man hineinlegte.
Als Pauline einmal alle Runden verlor, brachte sie jedoch nur einen leeren Korb zurück. Nicht einmal mehr im Eiswürfel-Fass war noch etwas drin gewesen. Da war die Enttäuschung groß bei allen. Wäre es nicht so heiß gewesen, hätten sie sicher laut geschimpft.

„Rutsch mal ein Stück, Rupert, sei so gut“, bat Pauline.
„Du glaubst wohl, du bist was Besseres?“ blaffte Rupert, der nicht daran dachte, sich zu bewegen. „Ich will nicht in der Sonne liegen nur damit du mehr Schatten hast!“ Mit beiden Händen schob er die sitzende Pauline ein ganzes Stück fort.
„Lass das!“ rief Pauline empört, „was bildest du dir ein? Der Schatten reicht für alle, der Baum ist riesig!“
„Woanders ist alles voller Steine, da will ich nicht hin!“, murrte Rupert. Er hatte eindeutig schlechte Laune. „Du glaubst wohl, weil du Prinzessin bist, kannst du bestimmen, wo ich sitze? Stimmt aber nicht! Wer kein Eis bringt, muss in der Sonne sitzen oder auf Steinen und basta.“
„Hört auf zu streiten!“ befahl Katharina. „Es ist viel zu warm dafür und wenn ihr streitet, wird mir noch wärmer allein vom Zuhören! Wenn das Eis alle ist, dann ist es alle, da kann man nichts machen.
„Blödsinn!“ brummelte Rupert und warf kleine Steinchen. „Sie hat nur nicht richtig geschaut!“
„Ich kann Eis besorgen,“ sagte nun Paulinus, „ob du das glaubst oder nicht. Aber ich geb‘ dir nichts ab, du hast so schlechte Laune, aber alle anderen bekommen ein Eis, das hast du nun davon!“
„Blödmann!“ knurrte Rupert, „ich will dein Eis gar nicht haben, blödes Prinzen-Eis ist nichts für mich!“
„Selber Blödmann! Geh doch woanders hin!“ mischte sich nun Kalli ein. „Wir wollen dich hier nicht haben!“
„Du hast mir gar nichts zu sagen!“ blökte Rupert zurück.
„Wer hier nichts zu sagen hat bis du!“ brüllte Kilian und warf Stöckchen in Ruperts Richtung.
„Geh weg!“ quiekte die kleine Otilia und warf ein paar ihrer Bälle.
Weil aber Otilia nicht gut zielen konnte, wurde nicht nur Rupert, sondern auch andere getroffen. So kam es, dass sich plötzlich alle mit Stöckchen und Bällen bewarfen und Gemeinheiten zuriefen. Es war ein wildes Geschreie und Gezanke, völlig unnütz, aber das störte sie nicht, gerade so, als wären sie froh um die Abwechslung.

„Los komm!“ flüstere Paulinus, fasste seine Schwester bei der Hand und duckte sich vor einem Ball. „Auf zum Turm! Und nimm den Eiskorb mit!“ - als wäre damit alles gesagt. Das war es auch, denn Pauline verstand sofort, was er meinte. Sie liefen zügig, von Schattenseite zu Schattenseite, was nicht viel nützte, denn die Mauern strahlten die Hitze großflächig ab und ihnen wurde sehr heiß.
Endlich gelangten sie zum Turm, traten ein und blieben erstmal nur stehen, denn drinnen war es deutlich kühler. Es roch zwar muffig, wie immer, aber das störte sie heute so gar nicht.

Dann liefen zum Turmzimmer hinauf und warfen sich in die Hängematte. Erst als sie wieder ruhiger atmen konnten, entdeckten sie das Weidenkörbchen, das abgedeckt auf einem Tischchen stand. Ganz langsam öffneten sie den Deckel und darinnen war, wie erhofft, Vanilleeis und Eistee; genauer gesagt, zwei Gläser mit Eistee und zwei Waffelhörnchen mit je einer Kugel Vanilleeis.
„Besser als gar nichts,“ sagte Pauline mit leicht enttäuschter Stimme, schnappte sich ein Waffelhörnchen. „Ich hatte gehofft, es reichte für alle!
„Besser als gar nichts!“ wiederholte Paulinus und trank sein Glas auf einen Zug aus und verspeiste schnell sein Eis.

Da ruckte die Hängematte einmal heftig, erhob sich aus ihrer Verankerung und flog aus dem offenen Fenster. Pauline schrie auf vor Schreck, das Eis fiel ihr aus der Hand und klatschte weit unten auf eine Mauer. Die Matte flog hoch in den Himmel hinauf bis fast unter die Sterne und es wurde dunkel wie am Abend. Dann faltete sie sich bootartig zusammen und zischte davon.
„Halt!“ schrie Paulinus, „wir wollen nicht fort! Wir wollten nur Eis holen für alle. Sofort umdrehen! Hörst du! Hängematte! Umdrehen!“ Es ruckelte gewaltig, die beiden wurden blass und hielten sich krampfhaft fest, aneinander und am Rand der Hängematte.
„Bitte!“ rief Pauline, „bitte, bitte, liebe Hängematte, dreh doch wieder um!“ Die Matte beruhigte sich zwar und flog nun ohne zu Ruckeln, aber umdrehen tat sie nicht.
Kalter Wind rauschte ihnen um die Ohren und sie duckten sich tief in die Decken. Nur ab und zu hoben sie den Kopf. Die Sterne verschwammen zu länglichen Punkten, so schnell flog die Matte, dass ihnen ganz schwindlig wurde davon.
„Die hat es aber mal eilig heute!“ kreischte Paulinus. „Ja! Ja!“ schrie Pauline. „Sehr eilig heute!“ und brach in hysterisches Gelächter aus. Und dann sagten beide kein Wort mehr und wurden ganz ruhig, solange die wilde Fahrt dauerte.

Endlich wurde die Fahrt langsamer und es ging wieder abwärts, aber wärmer wurde es nicht. Ganz im Gegenteil, es wurde noch viel kälter.
„Ich glaub das alles nicht“, flüsterte Pauline, als sie sich umsah. Die Landschaft unter ihnen bestand aus blauen Eisbergen und weißen, weiten Schneefeldern, die in der Sonne glitzerten. Es war so hell, dass Pauline geblendet die Augen zusammenkneifen musste.
„Schau nur, da unten sind Leute! Die laufen Schlittschuh!“ erkannte Paulinus und rief „Ho! Hei! Ho!“ nach unten.
„Oh wie sieht das alles schön aus hier!“ staunte Pauline und zog sich eine Decke halb über den Kopf. „Aber lausig kalt ist es hier! Meinst du, hier gibt es irgendwo Vanilleeis?“
„Keine Ahnung!“ antwortete Paulinus und rieb sich die kalte Nase. „Ich glaube aber nicht, ist auch ungewiss, ob wir landen!“
Genau in diesem Moment änderte die Matte die Richtung, zischte im Sturzflug nach unten und kam einen Meter über dem Boden wippend zum Stehen. Zaghaft hoben die Geschwister ihre Köpfe über den Mattenrand.

Pauline entdecke die Schneemänner zuerst. Eine ganze Horde war es, die sich ruhig näherten, gerade so, als glitten sie auf Schienen dahin. Im Näherkommen sah sie, das sich der Schnee am unteren Ende der Schneemänner lebhaft kräuselte und bewegte, ähnlich wie bei Schnecken, nur viel schneller und viel größer.
„Das sind die Leute, die du gesehen hast! Das ist ja gruslig! Das sind alles lauter Schneemänner und sie bewegen sich wie Schnecken! Und es sind so viele!“ flüsterte Pauline und krallte sich in Paulinus‘ Arm.
„Hast du schon mal so viele Schneemänner auf einem Haufen gesehen?“ flüsterte Paulinus zurück und zerrte Paulines Hand von seinem Arm. Er beugte sich ein wenig über den Rand, griff in eine Schneewehe und nahm eine Handvoll Schnee. Automatisch formten seine Finger einen Ball daraus. Da klatschte Paulines Hand auf seine Finger.
„Lass das! Du weißt doch gar nicht wie die gestimmt sind, wir müssen unauffällig bleiben!“, ermahnte Pauline ihren Bruder.
„Quatsch!“ antwortete Paulinus unwirsch. „Die sind bestimmt ganz lustig! Verstehen Spaß! Und lieben Schneeballschlachten über alles!“ Er hätte das wohl gerne, aber sicher war er nicht.
Währenddessen waren die Schneemänner ganz nahe herangekommen, standen nun dicht an dicht um die Hängematte herum. Die Geschwister duckten sich ganz tief und schauten gleichzeitig hoch zu den Schneemännern, die viel größer waren als sonst. Obwohl sie ganz nett aussahen, strahlten sie eine grimmige Kälte aus.
„Oh!“ sagte Paulinus und ließ den Schneeball schnell fallen.
„Was wollt ihr?“ fragte ein Schneemann. Seine Stimme hallte klirrend vor Kälte direkt in Paulines Kopf hinein.
„Wie können Sie sprechen, so ganz ohne Mund?“ fragte Pauline verdutzt.
„Wir sprechen über den Gedankenfluss, Sie hören mich doch!“ klirrte der Schneemann zurück. Pauline hätte nicht zu sagen vermocht, welcher der Schneemänner tatsächlich mit ihr sprach. Es war fast so, als sprächen sie alle gemeinsam. Das ist also ein Gedankenfluss, dachte Pauline und kicherte.
„Hörst du das auch?“ flüsterte Pauline, leicht verzückt und grinste. „Kannst du den Gedankenfluss der Schneemänner hören? Ist wie Schnee an Weihnachten!“
„Jetzt hör aber auf mit dem Quatsch!“ flüsterte Paulinus zurück und rüttelte seine Schwester. „Die sind stumm wie Fische und glotzen nur dumm aus ihren Kohleaugen und schau wie jämmerlich die Karottennasen aussehen, mit denen ist nichts los, mit denen kann man nicht mal eine Schneeballschlacht machen. Das ist nur Zeitverschwendung hier. Los Hängematte! Jetzt bring und aber uns zurück! Flott! Flott!“
Da kam der erste Schneeball geflogen. Er traf nicht, sondern sauste weitab vorbei. Aber schon der nächste flog in die Matte und auch der übernächste. Paulinus beeilte sich, die hereingeworfenen Schneebälle zurückzuwerfen, aber die Schneemänner waren in der Überzahl und bald war die Hängematte mit einer Schicht vereister Schneebälle bedeckt. Und dann erwischte einer Pauline seitlich am Kopf, sie schwankte leicht, streckte dabei die Arme aus, und wurde in diesem Augenblick hochgehoben von einem Luftwirbel, der sie forttrug. Es kam so überraschend, dass sie nicht einmal schreien konnte.
Dafür schrie Paulinus laut auf, als die Hängematte im selben Augenblick mit einem gewaltigen Ruck nach oben schoss. Sie flog viel schneller als zuvor und noch bevor Paulinus fertig war mit schreien, waren sie wieder im Turmzimmer angelangt.

Paulinus saß schimpfend in der Hängematte, die sich wieder an ihrem Platz gehängt hatte. Ganz ruhig hing sie da, ganz unschuldig. Einzig die Schneebälle zeugten von ihrem Ausflug, sonst hätte er es selbst nicht geglaubt. Die Schneebälle schmolzen schnell in der Wärme, die Decken wurde nass und Wasser tropfte auf den Boden. Die Luft roch mit einem Mal muffig wie in einem Gewächshaus. Doch Paulinus blieb zwischen den feuchten Decken sitzen. Er wollte nicht aussteigen, keinesfalls! Irgendwie musste er die Matte dazu bringen, zurückzufliegen. Er musste Pauline doch zurückholen. Wenn ihr nur nichts passierte, dachte er verzweifelt, wenn nur diese Hängematte endlich wieder davonflöge. Aber nichts, rein gar nichts tat sich. Die Matte bewegte sich kein bisschen. Ganz im Gegenteil. Sie hing ganz still und dehnte sich aus, auch die feuchten Decken breiteten sich aus. Paulinus wurde wütend und hieb mit den Fäusten dagegen, aber es nützte nichts. Die Matte hatte sich eindeutig auf eine Ruhepause eingerichtet.

Ich brauche Hilfe, entschied er dann und schwang sich aus der Matte. Geistesgegenwärtig steckte er die letzten drei noch nicht vollständig geschmolzenen Schneebälle in den Eiskorb und rannte die Treppen hinunter. Er brauchte ganz dringend Hilfe und der einzige, den er für geeignet hielt, sich mit einer Horde Schneemänner anzulegen, war Rupert der Schmiedelehrling, der einen Kopf größer war als er selbst und viel stärker.

Trotz der Hitze rannte Paulinus den ganzen Weg bis zum Schlosshof. Schwer atmend lehnte er sich an den Stamm der Platane und legte sich zur Abkühlung einen der Schneebälle auf den Kopf. Da liegen sie und schlafen, dachte er, und haben keine Ahnung. Er pirschte sich an Rupert heran, der zum Glück ein wenig abseits lag, den Rücken den anderen zugewandt. Er schüttelte ihn vorsichtig an der Schulter.
„Was ist los?“ murmelte Rupert, dem es gar nicht gefiel, gestört zu werden, denn es war immer noch viel zu heiß, um sich zu bewegen. Er öffnete die Augen, sah Paulinus und schloss sie sofort wieder. „Lass mich bloß in Frieden, du Blödmann!“
„Kleine Erfrischung gefällig?“ flüsterte Paulinus und steckte die restlichen Schneebälle in Ruperts Hemdkragen. Gleichzeitig hielt er ihm den Mund zu. Die anderen durften auf keinen Fall aufwachen. Schlimm genug, dass er Rupert einweihen musste. „Pst! Leise!“, flüsterte Paulinus nochmal, als Rupert Anstalten machte, seine Fäuste zu ballen. „Komm mit, es ist etwas passiert, mit Pauline, aber sei bloß leise, die anderen dürfen nichts merken!“
„Was ist mit Pauline!“ fragte er und war mit einem Satz auf den Beinen, zog Paulinus ebenfalls hoch und rüttelte diesen.
„Leise! Komm mit!“ Paulinus lief los und rannte in sein Zimmer und Rupert rannte hinterher.

„Was tust du da?“ fragte Rupert verblüfft, als er sah, wie Paulinus den Schrank aufriss und Socken, Stiefel, Pullis, Mäntel, Mützen, Schals und Handschuhe aufs Bett warf. „Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Erst weckst du mich, dann hetzt du mich durch die Gegend und jetzt das da!“
„Hör zu! Hör gut zu!“, begann Paulinus und stopfte die ganzen Sachen in einen großen Wäschesack, während er Rupert alles erzählte: von der Hängematte, von den Schneemännern, von Pauline und wie das alles gekommen war. „So, jetzt weißt du alles, und zu niemand ein Wort, das ist ein großes Geheimnis, unser Geheimnis und du bist nun eingeweiht und darfst niemand davon erzählen. Aber jetzt müssen wir das ganze Zeug auf den Turm schaffen und mitnehmen, wenn die Matte losfliegt. Los, fass mal mit an!“
„Wenn die Matte losfliegt!“ wiederholte Rupert lahm und schüttelte den Kopf. „Und das alles soll ich glauben, was ist das denn für eine verrückte Geschichte? Pauline, von Schneemännern entführt, eine Hängematte, die mit euch in ein Winterland fliegt. Los, jetzt zeig mir jetzt erst mal diese Hängematte!“, sprachs, schulterte den Wäschesack mit den und stapfte los. „Ich will sie schon zum Fliegen bringen!“
„Genau!“ grinste Paulinus, „deshalb habe ich dich geholt!“

„Zu trinken haben wir nichts, oder doch?“ Ächzend ließ Rupert den Wäschesack auf den Boden plumpsen, und wischte sich mit einem großen Taschentuch übers Gesicht. „Das alles ist verrückt, völlig verrückt!“
„Ich schau mal nach, vermutlich gibt’s was!“ antwortete Paulinus, lächelte verschmitzt, und öffnete den Deckel des Weidenkörbchens.
„Juhu!“ rief er fröhlich, „eisgekühlter Eistee! Zwei große Gläser voll!“ Er reichte Rupert eines. Noch bevor sie ausgetrunken hatten, wurde die Matte unruhig, ruckelte und wackelte. „Rupert!“ schrie er, „steig ein, schnell, es geht los, beeil dich.“ Er stellte schnell die auf den Tisch, schnappte sich den Eiskorb und kletterte in die Matte. Rupert kletterte hurtig hinterher rein. Die Matte löste sich aus der Verankerung und hob ab.
„Die Sachen!“ schrie Paulinus, „wir brauchen die Sachen!“ Die beiden lehnten sich weit aus der Hängematte und konnten den Wäschesack gerade noch greifen, bevor die Matte aus dem Fenster flog. Mit einiger Mühe gelang es ihnen schließlich, den Sack in die Matte zu hieven.
„Ich glaub’s nicht“, schrie Rupert und jodelte vor Begeisterung, lehnte sich über den Hängemattenrand und sah laut jubelnd nach unten.
„Setz dich in die Mitte, kriech unter die Decken, und mach am besten die Augen zu“, riet Paulinus und zog Rupert zurück. Keine Sekunde zu früh, denn die Hängematte faltete sich soeben bootsartig zusammen und beschleunigte. „Wir fliegen gleich so schnell, dass dir schwindlig wird, wenn du in den Himmel schaust.“
Rupert befolgte den Rat und wickelte sich in die Decken. Einen kurzen Blick wagte er dennoch, bevor er die Augen fest zusammenkniff. Der Anblick des sternengestrichelten Himmels war in der Tat eine äußerst schwindlige Angelegenheit. Dann schwiegen beide still, während der Fahrtwind gewaltig brauste.
Rupert schrie laut auf vor Schreck, als die Matte plötzlich steil nach unten schoss. Paulinus kannte es schon und hielt die Luft an. Mit einem gewaltigen Ruck kam die Hängematte knapp über dem Boden zum Stillstand. Sie faltete sich ganz aus, kippte seitlich weg und die beiden Jungen und der Wäschesack purzelten heraus. Noch während die beiden sich verdutzt ansahen, rollte sich die Hängematte zusammen, pflanzte sich wie ein Pfahl aufrecht in eine Schneeverwehung und rührte sich nicht mehr.
Die Kälte trieb die Jungen schnell wieder auf die Beine und flugs zogen sich die warmen Sachen über.
„Gut, dass du dran gedacht hast!“ lobte Rupert, „ist wirklich sehr kalt hier! Wir müssen Pauline schnell finden!“ Sprachs, schulterte sich den Sack mit den restlichen Kleidungsstücken und stapfte los. Dabei sang er, sehr laut und ein bisschen falsch.
„Was machst du denn da? Bist du verrückt geworden? Oder willst du alle auf uns aufmerksam machen?“ fragte Paulinus entsetzt.
„Genau! Das ist der Plan!“ antwortete Rupert gelassen. „Oder siehst du Pauline hier irgendwo oder irgendwelche Schneemänner? Nur Eis und Schnee weit und breit! Wenn die uns nicht finden, dann können wir hier ewig rumsuchen und finden Pauline niemals!“
„Stimmt!“ gab Paulinus kleinlaut zu. „Du hast recht, die müssen uns finden, damit wir Pauline finden.“ Und so fiel er ein in Ruperts Gesang und beide sangen so laut wie sie konnten. Es klang so viel fröhlicher, als ihnen zumute war.

Mit einem Mal schien es, als erhöbe sich ein Stück voraus der Schnee vom Boden. Doch es war kein Schnee, wie sie sogleich erkannten, es waren Schneemänner. Dicht an dicht drängten sie heran und kreisten die beiden Jungen ein, so dass sie mitten im Wort aufhörten zu singen. Paulinus rutschte das Herz in die Hose.
„Sag was!“ verlangte Rupert. „Du bist ein Prinz, du musst wissen, was man da so sagt!“
Paulinus wusste es in der Tat und jetzt fiel es ihm auch wieder ein: „Wir grüßen Euch, Edle Schneemänner“, begann er und verneigte sich galant. „Wir erbitten Gastrecht für die Dauer unseres Aufenthalts. Wir kommen in Frieden und ohne böse Absicht.“
Die Schneemänner rückten näher, wirkten bedrohlich und machten nicht den Eindruck, dass sie auch nur ein Wort verstanden hatten.
„Sie verstehen mich nicht!“ stellte Paulinus fest.
„Sag es einfach nochmal!“ schlug Rupert vor, „und wenn das auch nicht hilft, gibt’s was hinter die Löffel.“
Paulinus sagte seinen Spruch also noch einmal, verneigte sich noch einmal, auch Rupert verneigte sich.
„Wir suchen Pauline! Sie muss mit uns nach Hause kommen, hier ist es zu kalt für sie.“ Die Erwähnung von Paulines Namen schien etwas zu ändern, denn er fühlte ein kaltes Summen in seinem Kopf, das sich in kristallkalte Worte verwandelte. Ob das der Gedankenfluss war, von dem Pauline gesprochen hatte?
„Kommt der Goldene, kommt Pauline!“ hörte er klar und deutlich, „bringt ihr den Goldenen, bringen wir Pauline.“
„Rupert, hast du das auch gehört?“ fragte er. „Scheint keinen Sinn machen, aber das Wort Pauline habe ich ganz klar gehört.“
„Nein, ich habe nichts gehört“, antwortete Rupert, „lass dich nicht einwickeln, lass dich auf nichts ein. Sie sollen uns sofort zu Pauline bringen und dann sehen wir weiter.“
Und so verlangte Paulinus, unverzüglich zu Pauline gebracht zu werden und wiederholte es immer wieder, solange bis die Schneemänner aufhörten, ihrerseits den immer gleichen Satz in Paulinus‘ Kopf fließen zu lassen.

Was ist zu tun? fragten sich die Schneemänner, sie haben den Goldenen nicht oder wollen ihn uns nicht geben, sie wollen Pauline, die wir schon kennen, sie hat den Goldenen nicht, versteht uns aber sehr gut, wir bringen diese beiden also zu ihr, der eine, der aussieht wie sie und doch so anders ist, versteht nur wenig von uns, sie soll ihnen sagen, was wir verlangen, wenn sie uns den Goldenen bringen, lassen wir sie wieder ziehen. So sei es! entschieden die Schneemänner.

Die Schneemänner setzten sich in Bewegung, langsam, aber bestimmt. Paulinus und Rupert blieb nichts anderes übrig, als mitzulaufen, denn sie wurden von allen Seiten dazu gedrängt. Nach einer Weile kamen die Schneemänner zum Stillstand und wandten sie von den Jungen ab. Frei gaben sie sie dennoch nicht. Paulinus lauschte dem Gedankenfluss, der diesmal jedoch so schnell dahinfloss, dass er nur einzelne Wörter erkannte, die recht sinnlos auf in wirkten. In den kristallkalten Gedanken erfasste er jedoch einen anderen Ton, sanft und warm, das musste Pauline sein. Sein Herz machte einen aufgeregten Hüpfer.
„Ich glaube wir sind ganz nah bei Pauline!“ flüsterte er Rupert zu, der mit grimmigem Gesicht und geballten Fäusten auf die Schneemänner starrte. Der Wäschesack stand zwischen seinen Beinen.
Da öffnete sich eine Gasse in der Masse der Schneemänner und Pauline kam heran, Nase und Ohren rot vor Kälte, das Gesicht ganz blass. Die Füße, die in Sandalen steckten, waren blaugefroren, aber sie lachte und Paulinus wurde ganz warm ums Herz. Rupert griff in den Wäschesack und hielt ihr die Kleidungsstücke so hin, dass sie bequem hineinschlüpfen konnte. Mit Socken fing er an, ganz zum Schluss dann die Handschuhe. Allmählich hörte Pauline auf zu zittern und ihre Wangen wurden rosig.
„Geht es dir gut?“ fragte Rupert. „Haben sie dir etwas getan?“
„Alles gut!“ antwortete Pauline, „mir geht es gut und jetzt noch besser und mir ist schon wieder ganz warm. Sie haben mir nichts getan, und für die Kälte können sie nichts, das kann man ihnen nicht vorwerfen. Sie haben große Sorgen und große Angst, deswegen sind sie so grimmig. Der Goldene ist verschwunden und als sie uns entdeckten dachten sie, wir hätten ihn weggenommen.“ Dann umarmte sie erst Rupert und dann ihren Bruder. „Die Schneemänner haben mir alles erklärt. Wir müssen ihnen helfen, den Goldenen zurückzubekommen.“
„Und was ist der Goldene für einer?“ fragte Rupert und legte seinen Arm um Pauline wie um sie zu wärmen.
„Erzähl ich gleich, kommt aber erst mit, da hinten ist eine kleine Schneehöhle, da sind wir geschützt vor dem Wind.“ Und so machten sie es und dann erzählte Pauline:
„Der goldene Schneemann hält alles im Gleichgewicht. Er allein fühlt den Wechsel der Jahreszeiten, er allein weiß, wann der Frühling beginnt und wann der Herbst. Er bestimmt, wann es Zeit ist aufzubrechen, in die eine oder in die andere Richtung, je nachdem woher der Wind weht. Deswegen ist er der König und ihr Beschützer, denn ohne ihn sind sie verloren.“
„Was? Hier gibt es Frühling und so?“ fragte Rupert. „Und der ganze Schnee ist weg im Sommer?“
„Unterbrich mich nicht“, mahnte Pauline sanft und legte ihre Hand in seine. „Ja, im Sommer ist der Schnee weg, Blumen wachsen in Hülle und Fülle, Kaninchen hoppeln durchs Gras, die Seen sind voll mit Fischen. Es gibt hier viele Seen, wie eine Perlenkette liegen sie hintereinander. Jetzt sind sie zugefroren. Die Schneemänner sausen darauf herum, von See zu See und amüsieren sich sehr.“
„Die sehen aber nicht aus, als verstünden sie Spaß,“ widersprach Rupert energisch.
„Doch, doch“, fuhr Pauline fort, „das sind eigentlich lustige Gesellen und sie lachen viel, aber im Moment haben sie große Sorgen, nur deswegen wirken sie so zornig.“
„Aha!“, sagten die Jungen wie aus einem Munde und blickten ungläubig.
„Jetzt seid mal still,“ befahl Pauline, „ihr bringt mich ja ganz durcheinander. Beim Wechsel der Jahreszeiten bin ich stehengeblieben, denn das geschieht hier nicht so regelmäßig ist wie bei uns, weswegen es lebensnotwendig ist, dass einer weiß, wann der Wechsel beginnt. In den Wäldern der nördlichen Hochebene liegt der Schnee das ganze Jahr über und im Sommer ist kalt genug für die Schneemänner. Da sie aber keine Schnellläufer sind, brauchen sie einiges an Zeit, um von hier nach dort zu wandern und umgekehrt. Damit der Sommer sie nicht erwischt, oder der Winter, je nachdem eben, ist der genaue Zeitpunkt des Aufbruchs so wichtig. Denn bleiben sie auch nur ein paar Tage zu lang in der Tiefebene, erreichen sie die Hochebene nicht mehr rechtzeitig, sondern schmelzen auf dem Weg dorthin und dann wären alle fort und das wäre so traurig.“ Pauline sah ganz betrübt aus.
„Ja warum bleiben sie dann nicht die ganze Zeit dort, wo es sicher ist?“ fragte Paulinus.
„Bevor sie den Goldenen hatten,“ fuhr Pauline fort, „waren sie das ganze Jahr über auf der nördlichen Hochebene. Die Winter dort oben sind jedoch so kalt, dass die Schneemänner festfrieren und der Gedankenfluss ganz eisig wird. Das ist nicht schlimm, aber langweilig, denn sie können nur rumstehen und die Zeit abwarten, weil es zum Reden es zu kalt ist.“
„Wo kam der Goldene denn seinerzeit her?“ überlegte Rupert. „Vielleicht ist er dorthin zurückgegangen?“
„Das weiß ich nicht und die Schneemänner wissen es auch nicht, das habe ich sie schon gefragt“, antwortete Pauline, etwas ungehalten über die neuerliche Unterbrechung. „So wie es jetzt ist, gefällt es ihnen viel besser. Nun können sie im Herbst die nördliche Hochebene verlassen und im Winter die südliche Tiefebene erkunden, das macht ihnen viel Freude. Der Goldene ist aber auch aus einem weiteren Grund wichtig, denn er kann verloren gegangene oder verdorrte Nasen wieder nachwachsen lassen kann. Denn wie wir alle wissen, ist ein Schneemann nur mit Karottennase vollständig und glücklich. Habt ihr nicht gesehen, dass manche Nasen in einem jämmerlichen Zustand sind?“ Pauline zog erneut ein sehr betrübtes Gesicht. Die Jungen sahen sich die Nasen der Schneemänner nun genauer an und machten ebenfalls ein betrübtes Gesicht. „Deswegen müssen wir ihnen helfen, den Goldenen wiederzubekommen, wobei ich auch nicht weiß, wie das gehen soll, aber wir haben auch keine Wahl, denn sie lassen uns nicht fort, solange der Goldene nicht wiedergekommen ist.“
„Dann sollten wir sofort anfangen zu suchen, je eher wir ihn finden, umso eher kommen wir wieder fort!“ entschied Rupert stand auf und schlackerte mit den Armen.
„Frag sie, wann sie den Goldenen zuletzt gesehen haben, was er zuletzt gesagt oder getan hat, wo er hinwollte, oder ob etwas anders war als sonst?“ drängte Paulinus. „So ganz ohne Hinweis wird das eine schwierige Sache.“
Pauline schloss die Augen und tauchte in den Gedankenfluss der Schneemänner ein, stellte viele Fragen, aber erfuhr nichts, was ihnen weiterhelfen konnte. Eines Tages war der Goldene fortgegangen, so wie er es manchmal tat, aber diesmal war er nicht wiedergekommen.
„Mir scheint“, sagte Rupert, „dass das die Hellsten nicht sind. Und schau nicht so empört, Pauline, aber dumm hin oder her, sie sind in der Überzahl, und der müssen wir uns beugen.“

„Der Übermacht müssen wir uns beugen!“ wiederholte Paulinus lahm, seufzte tief und schaute dabei zum Himmel hinauf. „Schaut mal, da flattert was, blau und winzig! Was mag das wohl wieder werden?“
„Das ist ein Eisvogel!“ stellte Rupert fest. „Aber trotz seines Namens lebt der Eisvogel im Süden, normalerweise wenigstens, aber was ist hier schon normal?“
„Der flattert ganz wild hin und her“, wunderte sich Pauline, „und wie schön der aussieht und wie das Gefieder glänzt.“
„Und weg ist er!“ sagte Paulinus.
„Und da ist er wieder!“ sagte Rupert.
„Und wir gehen ihm nach!“ entschied Pauline, die bei seinem Anblick ein merkwürdiges Gefühl bekommen hatte.
Die Jungen sahen sich an, nickten ergeben und liefen hinterher. Was hätten sie sonst tun sollen und besser als nichts allemal. Die Schneemänner hielten sie nicht auf, auch folgten sie ihnen nicht, sondern blieben einfach nur stehen.
„Und sie sind doch dumm!“ flüsterte Rupert, damit Pauline es nicht hörte und Paulinus nickte.

Eine Zeitlang liefen sie schweigend hinter dem Eisvogel her, der immer wieder wendete und zu ihnen zurückflog, wenn die Kinder nicht schnell genug hinterherkamen. Schließlich wurde der Boden sehr uneben, und jeder von ihnen war schon mehrfach gestolpert, es gab kleinere und größere Löcher im Boden. Nun hieß es behutsam gehen und genau darauf achten, wo die Füße auftraten und gleichzeitig den Vogel nicht aus dem Blick verlieren. Schließlich fassten sie sich alle an den Händen, Pauline in die Mitte, denn sie konnte am weitesten schauen. Die Jungen achteten auf den Weg und Pauline auf den Vogel: rechts, links, geradeaus, immer abwechselnd. Schließlich setzte sich der Vogel auf die Spitze einer Schneeverwehung und legte die Flügel an. Entweder war der kleine Vogel am Ende seiner Kräfte oder sie waren angekommen. Oder es war alles Unsinn gewesen. Sie überlegten hin und überlegten her, schauten auf den Vogel, sprachen mit ihm aber der Eisvogel bewegte sich nicht.
„Seid mal still“ sagte Pauline, „ich glaube ich höre so etwas wie einen Gedankenfluss, ganz schwach aber nur.“ Sie machte die Augen zu, um besser zu hören, drehte sich erst hierhin, dann dorthin, und machte schließlich ein paar Schritte. „Es kommt von unten?! … es ist eindeutig ein schneemännischer Gedankenfluss!“ Sie drehte sich ein paarmal um sich selbst, machte drei große Schritte und gelangte an den Rand einer Spalte im Schnee.
„Oh!“ sagte Rupert und beugte sich ein wenig hinab. „Was für eine Falle, zum Glück sind wir nicht hineingefallen, das Loch ist erst zu sehen, wenn man direkt davorsteht!“
„Jetzt ist es ganz deutlich“, sagte Pauline. „Dort unten ist ein Schneemann, doch er denkt wirr und ich versteh nicht, was er meint.“
„Na, dann schauen wir doch mal nach“, schlug Paulinus vor, legte sich bäuchlings auf den Boden und schaute hinab. Die zwei anderen legten sich neben Paulinus und alle drei schauten nach unten.
„Jetzt ist es ganz deutlich!“, sagte Pauline. „Jetzt kann ich es verstehen!“
„Holt mich raus! Das denkt es, das kann sogar ich verstehen!“ sagte Paulinus und nickte ernsthaft.
„Ist es womöglich der goldene Schneemann?“ fragte Rupert, der sich ein wenig ausgeschlossen fühlte, denn er konnte keine Gedanken hören.
„Ja!“ jubilierte Pauline. „Es ist der Goldene. Er ist hineingefallen und braucht unsere Hilfe.“
„Wir brauchen ein Seil!“ sagte Rupert, der praktisch dachte, „sonst wird das nichts.“
„Wir könnten die Schals zusammenknoten“, schlug Paulinus vor, „zusammen sind sie lang genug.“
„Dann seilen wir Pauline ab, sie bindet den Schal um den Schneemann, klettert wieder raus und dann ziehen wir ihn gemeinsam hoch“, entschied Rupert und nahm seinen Schal ab. „Was wiegt eigentlich so ein goldener Schneemann?“
„Das werden wir dann schon merken,“ sagte Pauline.
„Entweder es klappt, oder es klappt nicht,“ bemerkte Paulinus, „das wird sich zeigen, aber wir haben es wenigstens versucht, ist jedenfalls mehr, als die doofen Schneemänner getan haben.“
„Die können das doch gar nicht“, empörte sich Pauline, „die Schneemänner haben doch keine Arme und ganz sicher auch kein Seil.“
„Ist ja gut“, entgegnete Paulinus und verknotete seinen Schal mit den beiden anderen. „Ist ziemlich lang und scheint recht stabil zu sein, unser Seil, Paulines Gewicht trägt es, ganz sicher.“
Rupert wickelte das eine Schalende um seinen Bauch und hielt es zusätzlich mit beiden Händen fest. Pauline wickelte sich das andere Ende um Oberschenkel und Schulter, ließ sich von Paulinus über den Rand helfen und kletterte dann Schritt für Schritt nach unten.
„Bist du schon angekommen?“ schallte es von oben herab.
„Ja!“ rief Pauline hoch. „Ich bin direkt über ihm.“
Pauline setzte sich behutsam auf den Kopf des Goldenen Schneemanns, beugte sich hinab, wickelte den Schal einmal um den Schneemannhals und machte einen festen Knoten.
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich, „aber unser Seil ist nicht lang genug, um es um deinen Bauch zu wickeln. Aber wir befreien dich! Versprochen!“
„Mach dir keine Sorgen, jede Stelle ist gleich gut, ich helfe mit, so ich es kann, klettere du nur wieder nach oben, ihr werdet alle drei kräftig ziehen müssen, auch wenn ich mich ein bisschen leichter machen kann, so bin ich doch ein kleines Schwergewicht.“
„Wir ziehen dich raus!“, versprach Pauline. „Ganz sicher, das schaffen wir!“

„Auf drei!“ gab Rupert das Kommando und dann war eine Zeitlang nur ein gewaltiges Ächzen und Stöhnen zu hören. Der Goldene hatte nicht übertrieben, er war wirklich ein Schwergewicht. Aber schließlich ragte der Kopf aus dem Spalt. Und da hing er und es ging nicht weiter. Der Rest war zu sperrig, um ihn über die Kante zu ziehen.
„Ihr müsst euer Ende loslassen und es weiter unten um den Schneemann binden“, befahl Rupert. „Pauline, das machst du und Paulinus soll dich festhalten, macht aber schnell!“
Die beiden hangelten sich abwechselnd am Seil nach vorne, damit sie es möglichst lange auch noch festhalten konnten. Rupert setzte sich derweil und stemmte die Füße tief in den Schnee, um das Gewicht besser halten zu können. „Beeilt euch! Lang kann ich das Seil so nicht halten!“ keuchte er.
„Ja! Ja!“, rief Pauline. Sie hing mittlerweile mit dem Oberkörper über den Rand und Paulinus hielt sie an den Füßen, während sie den Schal um den Schneemannbauch wickelte und einen Knoten machte. „Zieh mich hoch Paulinus! Ich bin hier fertig!“
„Beeilt euch!“ presste Rupert hervor, mittlerweile ganz rot im Gesicht, „lange kann ich nicht mehr halten!“
„Wir sind schon da!“ riefen beide, fassten das Seil und dann zogen alle drei noch einmal so kräftig sie konnten.
Endlich, mit einem mächtigen Rums, rutschte der Schneemann aus dem Spalt. Die Kinder ließen sich auch fallen, stöhnten und japsten nach Luft, lachten zwischendurch. Nach einer ganzen Weile erst konnten sie wieder aufstehen.
„So“, sagte Paulinus, „soweit so gut, jetzt müssen wir ihn nur noch aufrichten!“
„Wir ziehen ihn erst mal von der Spalte weg“, bestimmte Rupert, „damit er nicht wieder reinfällt! Nochmal kann ich den nicht rausziehen!“ Also rappelten sie sich auf und zogen den Goldenen mit einigem Geächze über den Schnee. Der Schneemann dachte die ganze Zeit nichts, zumindest hörte Pauline nichts. Es hätte auch ein ganz normaler Schneemann sind können.
„Wie sollen wir ihn bloß auf die Beine kriegen?“ grübelte Paulinus.
„Da hinten ist eine Erhebung, wenn wir ihn ein Stück da hinaufziehen, können wir ihn aufrichten“, entschied Rupert. „Anders schaffen wir das nicht, er ist zu schwer.“
Mir neuerlichem Ächzen und Stöhnen zogen und schoben sie den Schneemann soweit die Erhebung hinauf, bis es am Ende ganz einfach war, ihn aufrecht hinzustellen.

Erst passierte gar nichts, doch dann war es, als ob der Goldene die Augen öffnete und sie ansah. Dann sprach er zu ihnen und sogar Rupert konnte es verstehen. Und die ganze Zeit flatterte der kleine Eisvogel aufgeregt um sie herum.
„Ich danke euch, dir ihr von weit hergekommen seid, um mich zu retten aus großer Not, auch dir kleiner Eisvogel danke ich, der du sie hergebracht. Ich konnte mich nicht alleine befreien und die anderen konnten es auch nicht. Doch nun ist Eile geboten, ihr Kinder müsst schnell zurück dahin, wo ihr hergekommen seid. Denn wenn die Sonne untergeht wird es so kalt, dass ihr auf der Stelle erfrieren würdet.“
Also machen sie sich auch auf den Weg, der Goldene ging vorneweg, die Kinder gingen hinterdrein und der kleine Eisvogel flatterte über ihren Köpfen. Es dauerte gar nicht lange, da waren sie bei den anderen Schneemännern angelangt.
„Bist du ein Zauberer?“ fragte Pauline.
„Warum?“ fragte der Goldene zurück.
„Der Rückweg war viel kürzer als der Hinweg!“ sagte Pauline und die Jungen nickten zur Bestätigung.
„Kluges Kind!“, antwortet der Schneemann. „Nein, ein Zauberer bin ich nicht, ich bin nur ein Besonderer, und auch das nur in mancherlei Hinsicht. Zum Beispiel bei Rückwegen, oder bei Vögeln, die auf mich hören. Aber wenn ihr nicht gewesen wärt, hätte das alles nichts genutzt.“

Eine ganze Weile standen die Schneemänner nur stumm da, doch plötzlich war der Gedankenfluss erfüllt von wildem Jubel, der sich ausbreitete und überschwänglich in die Gedanken und Herzen der Kinder floss, so froh waren sie über die Rückkehr ihres Goldenen.
„Schau, wie fröhlich sie sind!“ sagte Pauline.
„Ja!“ gab Rupert widerstrebend zu. „Jetzt scheinen sie ganz nett zu sein. Und nun müssen sie uns gehen lassen!“
„Und wir müssen nur noch die Hängematte finden“, seufzte Paulinus, „bevor die Sonne untergeht, damit wir nicht am Ende doch noch jämmerlich erfrieren.“ Er schaute sich ein wenig mutlos um, glaubte er sich doch weit entfernt von der Stelle, wo sie angekommen waren.
„Sorgt euch nicht, liebe Kinder“, beruhigte sie der Goldene. „Wir sind genau hier genau richtig.“
Es fühlte sich für die Kinder an, als mache er eine weit ausholende Geste mit nicht vorhandenen Armen und noch während sie überlegten, was das wohl zu bedeuten hatte, bildete sich eine Gasse in der Masse der Schneemänner. Ein paar Schritte waren es nur, und dann standen sie vor der Matte, die immer noch zusammengerollt und aufrecht im Schnee steckte. Nun war es, als schnippe der Goldene mit den Fingern, und gleich darauf hüpfte die Matte in die Luft. Sie entrollte sich und der Eiskorb purzelte heraus, direkt neben ein kleines Häufchen mit Karotten und Schneebällen.
„Nehmt die Schneebälle mit und die Karotten!“ befahl der Gedankenfluss des Goldenen, „nehmt so viel mit, wie hineinpasst, immer eins und eins.“ Nun fühlte es sich gar an, als ob der Goldene lachte. Sie hatten keine Ahnung, ob das ein Witz sein sollte, aber sie taten wie geheißen und füllten den Korb. „Das ist die Belohnung für eure Hilfe!“ fuhr der Goldene fort und diesmal lachte er ganz eindeutig. „Und nun hinein in die Matte und fort mit euch, gehabt euch wohl und vergesst uns nicht, so wie auch wir euch nicht vergessen werden.“
Das ließen die drei sich nicht zweimal sagen, kletterten in die Hängematte, setzten sich zurecht und zogen Decken über Kopf und Schultern, den Korb nahmen sie in die Mitte
„Wir werden euch nicht vergessen!“ antwortete Pauline artig.
„Alles Gute!“ wünschte Paulinus.
„Seid vorsichtig!“ riet Rupert.
Dann winkten sie alle drei mit den Zipfeln der Decken und die Schneemänner winkten in Gedanken zurück.

Die Matte ruckelte und zuckelte heftig, kam aber nicht so richtig in Schwung. Mit Rupert und dem gut gefüllten Eiskorb war sie offensichtlich ein wenig überladen. Da kam ein kleiner Wirbelwind auf, genau unter der Matte, und hob sie hoch. Und dann waren sie so weit oben, dass sie die Schneemänner nicht mehr erkennen konnten und der Gedankenfluss verstummte. Die weiße Fläche unter ihnen wurde kleiner, wurde zum weißen Punkt und war schließlich ganz verschwunden. Und dann war nur noch der sternengestrichelte Himmel über ihnen und dann waren sie auch schon zurück im Turm. Ganz so, als würde der Rückreise-Beschleunigungs-Zauber des Goldenen bis hierhin gewirkt haben.

„Oh wie ist das heiß hier!“ jubelte Pauline und stand noch einen Moment ganz still und genoss die Wärme, bevor auch sie die Wintersachen auszog.
„Was für eine Hitze!“ stöhnte Rupert. „Vielleicht sollen wir zurückfliegen!“
„Keinesfalls!“ empörte sich Pauline. „Auf gar keinen Fall!“
„Und zu niemand ein Wort!“ ermahnte Paulinus. „Auf gar keinen Fall!“
„Und was machen wir nun mit unserer tollen Belohnung?“ lachte Rupert und schlenkerte den Korb durch die Luft.
„Wir nehmen alles mit!“ entschied Paulinus. „Für eine kleine Abkühlung ist so ein Schneeball allemal gut, auch könnte eine eisgekühlte Karotte sehr erfrischend sein, gesund wäre das allemal.“
„Na dann aber schnell!“ empfahl Pauline.
„Wir kommen ja schon!“ riefen die Jungen und rannten hinter Pauline her, bis hin zur großen Platane im Schlossgarten.

„Wo kommt ihr denn her?“ fragte Katharina und schaute streng. „Es ist bald Abendessenzeit und ihr seid heute dran mit Tischdecken! Also schnell an die Arbeit!“
„Gleich! Nur einen Moment noch!“, erwiderte Paulinus und zwinkerte ihr verschmitzt zu. „Ich hatte euch doch ein Eis versprochen …“ Er machte eine Verbeugung in Richtung Rupert, der den Korbdeckel langsam öffnete. „… und hier haben wir … Schneebälle für alle!“
Katharina vergaß, dass sie streng schauen wollte und bekam große Augen. Auch Paulinus bekam große Augen, denn er hatte in den Korb hineingegriffen, ohne hinzuschauen, und was er nun in der Hand hielt, war kein Schneeball, sondern ein orangefarbenes Waffelhörnchen, gefüllt mit einer großen Kugel Vanilleeis, mit goldenen Streuseln obenauf.
„Los! Greift zu!“ forderte Rupert die anderen auf. „Aber nicht drängeln! Es ist genug für alle da!“
„Das schmeckt köstlich!“ lobte Katharina und nahm sich gleich noch eins. „Wo habt ihr das denn her?“
„Wir waren unterwegs“, begann Pauline, derweil Paulinus und Rupert sie groß ansahen und nickten. „Da hat sich jemand verlaufen, da haben wir geholfen und dafür haben wir das Eis bekommen.“
„Jemand hat euch das Eis geschenkt?“ wiederholte Katharina und sah ihr Eis ganz misstrauisch an. „Von Fremden sollen wir nichts nehmen!“ Aber sie aß ihr Eis schnell auf und nahm noch eines hinterher, denn es schmeckte so gut und so frisch wie nie ein Eis zuvor.

Ende

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