Die Schnappfliegblüte

Devon Malldragora

Das Königreich Duun-Cadoh war ein kleines Königreich und lag weit abseits der großen Handelsstraßen. Es wurde regiert von König Arad und seiner Königin Ysmera und sie wohnten im Schloss Osbin-Tres-Bin, zuweilen Vielmalgut genannt. Das Schloss thronte auf einem Berg in der Mitte des Reiches. Rundherum wuchsen Blumen und Bäume, die es sonst nirgendwo gab, auch lebte dort allerlei seltenes Getier friedlich miteinander. Die Menschen in diesem Königreich waren fleißig und überwiegend fröhlich und sie feierten viele Feste. Alle hatten genug zu essen und zu trinken und ein schönes Dach über dem Kopf.

Da hörte es eines Tages, weit entfernt vom Lande Duun-Cadoh, die Drachin Devon Malldragora von diesem wunderbaren Land. Ein Kaufmann, den diese zum Frühstück hatte verspeisen wollen, rettete sich das Leben, indem er von der stets gefüllten Schatzkammer des Schlosses erzählte. Der Kaufmann erzählte so schön und so gut, dass sie verzückt die Augen schloss. Auf diesen Augenblick hatte der Kaufmann nur gewartet und rannte fort, so schnell ihn seine Beine trugen. Als die Drachin aus ihrer Verzückung erwachte und bemerkte, dass ihr Frühstück geflohen war, rannte sie Wut schnaubend hinterher. Doch umsonst, sie fand weder den Kaufmann noch sonst etwas, nur verkohltes Land weit und breit.
„Das kommt davon, du dummer Drache“, schimpfte ihr Haushofmeister, ein Zwerg vom Stamme der Samsaren namens Alfred Albert. „Nichts ist mehr da, weil du immer alles auffrisst und nichts aufhebst für später, weil du dein Feuer nicht unter Kontrolle hast, so dass kein Strauch wächst und kein Baum. Und ohne Sträucher, ohne Bäume, ohne Gras gibt es keine Hasen, keine Schafe, keine Rehe! Nichts! Gar nichts!“
Devon Malldragora wusste wohl, dass der Zwerg recht hatte. Aber Vorratshaltung war nicht Drachenart und ein kräftiges Feuer ließ sich nicht vermeiden, wenn man nach dem Fressen rülpsen musste. So war das eben. Mittlerweile war sie schon so schwach, dass sie nicht einmal mehr ein kleines Feuerchen spucken konnte. Dafür knurrte ihr Magen lauter als Gewitterdonner. Doch es sollte noch drei Tage vergehen ehe sie sich an einem Rudel Wölfe satt fressen konnte, das sich unvorsichtiger Weise in ihre Nähe gewagt hatte.

Devon Malldragora besaß eine magische Kristallkugel, die sie vor langer Zeit einer alten Hexe geraubt hatte. Diese Kugel zeigte höchst zuverlässig jeden Ort der Welt, den sie zu sehen begehrte, so auch das schöne Schloss Osbin-Tres-Bin. Zum Fliegen zu weit, entschied die Drachin, viel zu weit! Die Gefahr, dort ausgehungert anzukommen, wäre zu groß.
Alfred Albert wäre gerne mitgekommen, er musste aber bleiben, den Drachenhort bewachen und einmal gründlich saubermachen. Das war keine Geringschätzigkeit dem Zwerg gegenüber, solch kleinlicher Gedanken war die Drachin nicht fähig. Aber es war keineswegs Drachenart, sich gemeinsam mit anderen auf Schatzsuche zu begeben. Selbst ihren Liebsten hätte sie niemals mitgenommen, so sie denn einen gehabt hätte.
Devon Malldragora trat an den Rand des Drachenhorts und murmelte einen ixilarischen Transportzauber, der einfach anzuwenden war, allerdings die Kenntnis der alten Drachensprache erforderte. Natürlich beherrschte sie diese fließend und, kaum dass die letzte Silbe verklungen war, materialisierte sie mitten im Thronsaal des Schlosses.

Osbin-Tres-Bin

Die Hofdamen wurden auf der Stelle ohnmächtig vor Schreck. Die königlichen Wachen zogen tapfer ihre Schwerter, obwohl sie schlotterten vor Angst. Einen leibhaftigen Drachen hatte keiner von ihnen jemals gesehen. Es waren zehn an der Zahl, tapfere und starke Kämpfer, gut bewaffnet und gerüstet. Doch Devon Malldragora verspeiste sie mit Haut und Haar, samt Schwert und Rüstung. Dann rülpste sie hemmungslos und ihr stinkender Schwefelfeueratem hüllte den Thronsaal in gelben Dunst und setzte die Vorhänge in Brand. Sie hätte die Hofdamen nur allzu gerne zum Nachtisch verspeist, aber sie war einfach zu satt. Zudem lagen ihr die Schwerter und Rüstungen ein wenig schwer im Magen. Das wollte erst einmal verdaut sein. So verwandelte sie die Hofdamen in hübsche Spielkarten und stopfte sie in ihre Trolllederhandtasche, ein sehr robustes und sehr geräumiges Modell.

„König“, sprach die Drachin sodann mit grollender Stimme, „ich habe vom prächtigen Inhalt deiner Schatzkammer gehört. Gib alles mir, denn ich will alles haben. Ich will auch das Schloss und das Land, denn dies alles gefällt mir sehr. Ich werde eine Weile hierbleiben und dich und die Frau Königin zum Nachtmahl verspeisen.“
„Nein! Nein! Und nochmal nein! So geht das nicht“, rief der König, denn er war ein mutiger König. „Nicht so hastig. Was sollen denn die Leute denken, wenn du König und Königin verschlingst?“
„Ach,“ erwiderte die Drachin, „das ist mir egal, ich werde alle anderen auch fressen, jeden Mensch und jedes Tier und dann werden bald jede Menge tapfere und wohlschmeckende Ritter kommen, und auch die werde ich fressen, denn ich bin die Stärkste aller Drachen.“
„Ein kluger Drache“, gab der König zu bedenken, „wird wohl verstehen, dass ein König sein Königreich nicht einfach hergeben darf. Wenn du es haben willst, musst du es gewinnen. Deshalb fordere ich dich zu einem Spiel heraus. Gewinnst du, bekommst du die Schätze und alles was du willst. Gewinne ich, wirst du verschwinden und niemals wiederkommen, mit großem Drachenehrenwort, von einem Zwerg besiegelt.“
„Ja, ja, ganz wie du willst!“, brüllte Devon Malldragora, lachte hämisch und holte einen Satz Spielkarten aus ihrer Trolllederhandtasche. „Oder will der Herr König lieber würfeln?“
Dem König war es gleich, denn er war ein Meister aller Spiele, was die Drachin nicht wusste. Die Drachin jedoch war eine schlechte Verliererin, was der König nicht wusste. Und so kam es, wie es kommen musste: Der König gewann das Spiel, doch die Drachin dachte nicht daran, ihren Teil der Abmachung einzuhalten. Und weit und breit kein Zwerg, der sie zwingen konnte, sich an die Abmachung zu halten. Ha, dachte die Drachin, ohne Zwerg kein Drachenehrenwort, so kann ich machen was ich will, ich werde doch diese wundervolle Schatzkammer nicht aufgeben, nur weil ich verloren habe!
„Du hast nicht gewonnen!“, brüllte die Devon Malldragora. „Du ist ein Betrüger! Gegen mich kann kein Mensch gewinnen, denn ich bin die Klügste aller Drachen. Ich werde dich zu Stein verwandeln, zur Strafe! Dann kannst du in deinem Thronsaal stehen und zusehen, wie ich dein Volk auffresse, einen nach dem anderen mit Haut und Haar.“ Sie holte tief Luft und öffnete das Maul, doch das Feuer, das herauskam, war diesmal kalt und grau wie alter Stein. Keine Sekunde später war der König ganz und gar versteinert, seine letzte Karte, die Trumpfkarte, noch siegessicher hocherhoben. „Und dich, Frau Königin, verwandle ich und verbanne dich an einen Ort weit fort von hier. Dort kannst du sitzen und heulen über dein Unglück von heute an bis in alle Ewigkeit, denn dort wird dich kein Mensch jemals finden, denn ich, Devon Malldragora, kenne die besten Verstecke diesseits und jenseits der Welt.“ Sie murmelte einen Bannspruch, natürlich in der alten Drachensprache. Es raschelte, die Kleider der Königin fielen in sich zusammen, als diese in eine schwarze Kröte verwandelt wurde und sogleich mit einem leisen Plopp verschwand. Devon Malldragora sah den versteinerten König an, zog sich die Krone der Königin als Armreif über die Tatze. „Ja!“, sagte sie laut, wobei sie eine kleine Rauchwolke ausstieß, „das wäre geschafft! Jetzt gehört die feine Schatzkammer mir!“ Sie lachte laut, denn sie freute sich sehr, wie schnell und einfach sie dieses prachtvolle Königreich erobert hatte. Glück gehabt, dachte sie, das hat so manches Mal deutlich länger gedauert. Sie entschied, mit der Schatzkammer noch ein wenig zu warten, sondern sich erst ein wenig umzusehen.

Singend (was ein Drache eben so singen nennt) marschierte Devon Malldragora zum Schloss hinaus. An der großen Freitreppe blieb sie stehen. Prima dachte sie, die Treppe ist groß genug für mich, das passt doch und das alles gehört jetzt mir.
Ihr Fuß war noch nicht auf der nächstunteren Stufe angekommen, als sie sich mit dem anderen Fuß kräftig abstieß und den ganzen Körper schwungvoll nach hinten warf. Die Bodenplatten zersplitterten beim Aufprall unter ihrem Hinterteil. Sitzend zerrte sie heftig an ihrem Fuß herum, der immer noch über der Stufe in der Luft hing und allmählich durchsichtig wurde. Sie fluchte und brüllte und brüllte und fluchte und riss sich dann mit einem mächtigen Ruck den Fuß einfach ab. Der Fuß verschwand und sie starrte grimmig auf ihren fußlosen Knöchel, den sie fest zwischen den Vorderpranken hielt. „Au!“ und „weh!“, brüllte sie laut und eine ganze Zeitlang, bevor sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie einen ixilarischen Heilzauber anzuwenden vermochte. Er funktionierte hervorragend und es dauerte nicht lange, da war ihr ein neuer Fuß gewachsen, so gut und schön wie der alte.
„Siebenmal Zwergenzwack und Schlangenpack“, brüllte sie, „verflixt und zugenäht und Schlabbersack! Was war das?“ Sie sprang auf die Füße und rannte sogleich zurück. „König“, donnerte sie so laut, dass die Kronleuchter zersprangen, „das wirst du mir büßen, in tausend Splitter werde ich dich zertreten und in alle Winde verstreuen.“ Sie schnappte sich seinen Thron im Vorübergehn und ließ ihn mit aller Wucht auf das Haupt des Königs niederknallen. „Zerfalle, König“, schrie sie dabei, „zerfalle und werde zu Staub!“ Der Thron zerbrach wohl, aber der versteinerte König erhielt nicht einen einzigen Kratzer.
„Königin komm zurück!“, kreischte sie sodann, natürlich auf ixilarisch, denn es war ein Zauberspruch, der die Königin aus der Verbannung zurückholen sollte. Blaugrüne Flammen und gelbe Blitze tanzten um die Drachin, doch die Königin blieb verschwunden. „Na wenn schon, bleib doch wo der Pfeffer wächst! Dann hol ich mir jetzt halt den Schatz!“

Devon Malldragora machte sich auf den gut ausgeschilderten Weg zur Schatzkammer. Rechts hinter dem Thronsaal die Treppe hinab und dann wieder hinauf und wieder hinab, durch viele Gänge hin und her und kreuz und quer und das so lange, bis die Drachin reichlich außer Atmen war von der vielen Lauferei. Da endlich gelangte sie vor das Tor zur Schatzkammer, das durchsichtig war. Der Anblick, der sich ihr bot, war jede Anstrengung wert und eine ganze Weile stand sie nur da, und schaute und schaute. Dabei wurde ihr ganz warm ums Herz vor lauter Freude. All die funkelnden Juwelen, das Gold und das Silber, alles, was ihr Drachenherz begehrte, befand sich hinter diesem Tor.
„Schatzkammer!“, rief sie laut und deutlich. „Öffne dich!“ Doch das Tor blieb zu. Die Drachin probierte es mit Feuer, mit viel Feuer und mit wüsten Flüchen und ixilarischem Zauber, mit allem, was ihr in den Sinn kam, und das war so einiges, aber nichts wirkte. Sie stand vor dem durchsichtigen Tor und hieb schließlich mit beiden Fäusten solange dagegen, bis sie geschwächt zu Boden rutschte. Da sah sie es, direkt vor sich, klein geschrieben, so klein, dass man sich hätte hinknien, oder eben hätte hinfallen müssen, und sie las, was dort geschrieben stand:

Mit Gewalt kommt niemand hier hinein,
die Schlüssel müssen sein zu zwein,
den einen trägt die Königin, den anderen der König,
hast du sie nicht, so wartest du ewig,
doch frage höflich und nenne dein Begehr,
dann geben sie die Schlüssel her,
denn ich habe genug für alle,
nur wer kommt mit Gewalt, der sitzt in der Falle.

Die Drachin schluchzte grell auf vor Enttäuschung. Tränen tropften die Wangen hinunter, die zischten und kleine Löcher hinterließen, wo sie auf den Boden tropften. Aber es gab nichts, überhaupt gar nichts, was sie jetzt noch tun könnte.
Devon Malldragora hatte einen großen Fehler gemacht. Sie, die Klügste aller Drachen, hatte vergessen, was alle Drachen wissen und was sie auch gewusst hätte, wäre sie nicht so gierig gewesen. Ein Schloss mit so einer Schatzkammer verfügte selbstverständlich über einen Zauber zum eigenen Schutz. Dieser Schutzzauber war ganz ausgelöst worden in dem Moment, als sie den König versteinert hatte. Zauber gegen Zauber, so war das. Und jetzt saß sie in der Falle, genauer gesagt in einer Dominofalle, wie ihr nach einigem Überlegen klar wurde und das war etwas ganz und gar Hinterlistiges: Sie hätte wohl das Schloss verlassen können, ihrem Fuß war es ja auch gelungen, aber dann hätte sie nie und nimmer zurückgefunden. Niemals mehr. Bliebe sie aber, würde sie früher oder später verhungern. Keine guten Aussichten, dachte sie grimmig und bekam sofort Hunger. Sie griff in ihre Trolllederhandtasche und holte die Hofdamen-Spielkarten hervor, die sie bis auf eine verspeiste. Etwas pappig zwar, aber der Bauch war voll und so schlief sie auf der Stelle ein.

Um ungefähr dieselbe Zeit saß der Zwerg Alfred Albert in der Abendsonne vor dem Drachenhort. Was macht sie wohl, meine Drachin, dachte er ein wenig wehmütig, denn er fühlte sich recht einsam ohne sie. Da fiel etwas mit einem mächtigen Plumps direkt vor seine Füße. Vor Schreck sprang er mit einem Salto rückwärts hinter die nächste Felszacke. Nach einer Weile näherte er sich vorsichtig dem Ding, das vom Himmel gefallen war. Als ihm klar wurde, was es war, fing er an, bitterlich zu weinen, denn nun wusste er, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Ohne Not hätte sich Devon Malldragora niemals von ihrem Fuß getrennt. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, polierte er ihn mit einem seidenen Tuch und Pfauenfedern solange, bis er leuchtete und funkelte. Dann stellte er ihn mit einiger Mühe, denn der Fuß war groß und schwer, mitten in den Eingang zur Drachenhöhle. Irgendwann, da war sich Alfred Albert ganz sicher, würde die Drachin zurückkommen.

Der Zirkus

Im Lande Duun-Cadoh war das Leben für Mensch und Tier nicht einfach. Das Wetter war oft schlecht. Die Arbeit auf den Feldern war mühselig, denn diese waren voller Steine und die Ernte war mager. Schafe und Ziegen bekamen wenig Nachwuchs und so war Wolle immer knapp, was schlimm war, denn die Winter waren kalt. Hühner und Gänse legten nur wenig und nur kleine Eier. Weil auch die Menschen immer weniger Kinder bekamen, war das einst sehr stattliche Städtchen Duun zu einem kleinen Dorf geschrumpft. Viele Häuser standen leer und zerfielen. Es war kein leichtes Leben, doch die Menschen kannten es nicht anders und machten das Beste daraus. Keinem kam es in den Sinn fortzugehen, denn das hier war ihr Land. Alle hegten sie die Hoffnung, dass es eines Tages wieder besser werden würde, so wie in alter Zeit.

In einem der härteren Winter wurden zur Freude aller Zwillinge geboren, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge wurde Joey genannt und das Mädchen Arlana.
In den ersten Wochen und Monaten nach ihrer Geburt hatte es viel Gerede gegeben, dass die Zeiten jetzt besser würden, dass sich alles ändern würden, denn Zwillinge, so hieß es, brachten Glück. Aber nachdem sich nichts änderte während die beiden heranwuchsen, hörte das Gerede schließlich auf.

Die Zwillinge wohnten mit ihren Eltern in einem kleinen Häuschen am Rand der Stadt. Die Mutter war Schneiderin und der Vater Hufschmied. So hatten sie ihr Auskommen. Die Familie besaß sogar zwei alte Ackergäule, Orangina und Cajenn genannt, auf denen die Kinder zuweilen ausreiten durften. Wenn das Wetter schön war, trieben Joey und Arlana ihre paar Gänse zu einem Wiesengrund etwas außerhalb des Dorfes. Dort gab es einen kleinen Teich, sehr beliebt bei den Kindern des Dorfes und den Tieren, die sie hüten mussten. Es gab viele Schnecken und rund um den Teich wuchs das saftigste Gras der ganzen Gegend. Die Kinder kamen hier gerne zusammen. Gemeinsam tollten sie im Gras herum und im Wasser, zwischen all den Ziegen und Schafen und Gänsen und Hühnern und waren fröhlich und ausgelassen. Und wenn sie genug davon hatten, legten sie sich ins Gras und sahen den Wolken zu. Es war ein schönes Leben, das Joey und Arlana und führten und trotz mancher Entbehrung waren sie glücklich und zufrieden.

Ein oder zweimal im Jahr kam es vor, dass ein Ritter durch das Dorf kam und Joey sah ihn sich immer ganz genau an. Es war sein größter Wunsch, selbst einmal ein Ritter zu werden. Er glaubte fest daran, obwohl die anderen ihn auslachten, was nicht von ungefähr kam, denn er war klein und schmächtig von Statur. Auch Arlana hatte ihre geheimen Träume, doch sie verriet sie nicht, nicht einmal ihrer besten Freundin. So vergingen die Jahre, eines nach dem anderen, die Geschwister wuchsen heran und plötzlich war der Tag gekommen, da sie zur Schule gehen sollten.

Die Schule stand am Hang des einzigen Berges im Lande am Rande eines verwilderten Parks. Die Kinder nannten ihn insgeheim Schlosspark, denn weiter oben gab es eine alte, zerfallene Ruine, von der sie sich vorstellten, dass es einmal ein Schloss gewesen sei. In Wirklichkeit wusste aber niemand, was für ein Gebäude das einmal gewesen war und es stand auch nirgendwo geschrieben. Und außer den Kindern interessierte sich auch niemand dafür. Die jedoch schlichen sich manchmal hin und wären auch gerne hineingegangen, aber sie fanden keinen Eingang. Das Schulhaus war eines der schönsten Gebäude im Dorf, auch wenn es nicht mehr neu war und schon bessere Tage gesehen hatte. Es hatte kleine Türmchen und Balkone. Die Räume waren groß und freundlich und hatten Fenster bis zum Boden. Vor allem gab es reichlich Platz für die wenigen Schüler, die dort unterrichtet wurden.
Joey und Arlana hatten es kaum erwarten können und gingen am ersten Schultag voll Freude hinein. Die Freude ließ bald nach, denn sie mussten lernen, viele Stunden am Tag. Über die Jahre lernten sie viele Dinge, nützliche und unsinnige, langweilige und interessante. Sie lernten Lesen, Schreiben, Rechnen, die Sprache der Nachbarländer und die der Poesie. Sie lernten Singen, mehrstimmig und laut und das Schwingen an Ringen und das Tanzen im Kreis.

Eines Tages schlug eine Zirkustruppe nahe der Schule ihr Lager auf. Da war an Unterricht nicht mehr zu denken. Gemeinsam gingen sie hinaus und sahen zu, wie das große Zelt errichtet wurde. Nach und nach kamen auch die übrigen Dorfbewohner herbei, denn einen Zirkus hatte noch keiner von ihnen gesehen. Am frühen Abend war es endlich soweit und die Vorstellung begann. Die Artisten entführten die Menschen mit ihrer Kunst in eine andere, wunderbare Welt und schenkten ihnen Träume für viele Tage. Die Leute klatschten und lachten, wollten immer mehr und mehr. Doch wie alles einmal zu Ende geht, musste auch dies ein Ende haben. Schließlich, nach der allerletzten Verbeugung des komischen Clowns, nach dem allerletzten Tusch der Kapelle, standen die Leute auf und schlenderten fröhlich nach Hause. Dies war ein Abend, den keiner so schnell vergessen würde.

Einzig Joey und Arlana blieben noch sitzen, überzeugt davon, dass die Vorstellung noch nicht zu Ende wäre. Sie sollten Recht behalten. Denn die Musik fing noch einmal an zu spielen, ganz leise zuerst, kaum hörbar, dann ein wenig lauter. Die Zwillinge standen auf von ihren Plätzen und gingen nach vorn und kletterten in die Manege. Die Töne schwebten durch das Zelt, leicht wie Nebelschleier, feierlich, fröhlich und traurig, alles zugleich. Der Vorhang öffnete sich und ein Königspaar trat hervor. Gekleidet in Samt und Seide, geschmückt mit Gold und Edelsteinen, aber mit traurigen Gesichtern. Der König trug ein kleines Kästchen, dessen Deckel er aufklappte. Die Königin nahm zwei Schlüssel heraus. Joey und Arlana hielten sich an den Händen und ihre Herzen schlugen wild vor Aufregung. Den einen Schlüssel reichte die Königin Arlana, den anderen Joey. Und wie sie die beiden so ansah, leuchtete für einen Moment in den Augen der Königin Augen ein tiefes goldenes Licht. Und dann waren sie fort.

Am nächsten Morgen erzählten sie der Mutter von dem Königspaar und den Schlüsseln. Einmal sprach Arlana, einmal Joey, meist aber beide gleichzeitig, so aufgeregt waren sie. Die Mutter schmunzelte nur und sagte:
„Ach, Kinder, ihr habt nur geträumt. Ihr seid schon eingeschlafen, bevor die Vorstellung zu Ende war. Erinnert ihr euch nicht mehr? Mit dem Handwagen haben wir euch nach Hause gebracht, wie damals, als ihr noch klein wart, denn ihr wolltet nicht aufwachen, um auf euren eigenen Füßen zu laufen. Doch wundert es mich nicht, dass euch von einem Königspaar träumte, denn unter den Gauklern war ein Mädchen, das war schön wie eine Königin und ein Junge, der war stark wie ein König. Vergesst den Traum und esst euer Frühstück. Es ist höchste Zeit, die Schule beginnt bald."
"Aber", begann Arlana, die nicht wollte, dass die Mutter Recht behielte, "woher sind dann die Schlüssel und warum träumte mein Bruder denselben Traum?"
"Ach Tochter", antwortete die Mutter, "hör auf damit. Es war ein Traum und damit basta. Zwillinge träumen oft dasselbe, das weißt du doch. Und wer weiß, woher ihr die Schlüssel habt? Am besten wird es sein, wenn ihr die Schlüssel dem Zirkusdirektor aushändigt, der wird schon wissen, wo sie fehlen. Lauft jetzt los, dann könnt ihr das noch vor Schulbeginn erledigten!"

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, packten ihre Sachen und rannten los. Doch groß war ihre Enttäuschung, als sie ankamen, denn das bunte Zelt war verschwunden. Es war fort und mit ihm der Zirkusdirektor und die Artisten und alles Drum und Dran. Nur die Schule stand wie immer am gewohnten Ort und die Glocke rief zum Unterricht.

Der Turm

Am Tag der Sommersonnenwende brachen Joey und Arlana und ihre Eltern gemeinsam mit den übrigen Dorfbewohnern auf zur Sonnwendfeierwiese. Die Wiese lag drei Stunden Fußmarsch vom Dorf entfernt und der Weg dahin führte durch dichten Wald. Es war beschwerlich, aber in der allgemeinen Aufregung kam es niemandem lang vor, das würde erst der Rückweg am nächsten Morgen mit sich bringen. Sie würden draußen bleiben die ganze Nacht, ein großes Feuer anzünden und das Mittsommerfest feiern. Auf dem Weg spielten die Kinder verstecken, sogar die Erwachsenen machten mit, so aufgeregt und albern waren alle. Einige der Männer waren schon früher aufgebrochen, hatten einen großen Wagen beladen, der von Cajenn und Orangina gezogen wurde, und alles mitgebracht, was für ein gelungenes Fest benötigt wurde.

Auf der Suche nach einem besonders guten Versteck waren Joey und Arlana ein wenig vom Weg abgekommen und standen plötzlich am Rand einer Waldlichtung, in deren Mitte sich ein kleiner See befand, und daneben ein paar alte Mauerreste. Sie waren öfter mal dagewesen, aber dort gab es nichts, nur Steine, die einem auf den Kopf fallen konnten.
„Lass uns umkehren“, schlug Arlana vor, „die anderen sind weit voraus, sie werden nicht umkehren, um uns hier zu suchen!“
„Ja, das wird besser sein“, antwortete Joey, „hier kommt niemand her. Außerdem bekomme ich langsam Hunger, riechst du nicht schon den Bratenduft?“
„Oh je! Ganz dürr bist du schon geworden!“ Arlana lachte und klopfte ihrem Bruder auf den Bauch. Da sprang eine gestreifte Katze vorbei, die einen Schwarm weißer Tauben verfolgte. Die Katze sprang immer wieder hoch, doch nie hoch genug, um eine Taube zu fangen. „Noch jemand, der Hunger hat!“ feixte Arlana, „aber schau, wo die hinfliegen!“ Sie zog Joey am Arm und drehte ihn um und dann sahen sie es beide: wo gerade eben noch nur die alte Mauer gestanden hatte, erhob sich nun ein kleines Türmchen mit roten Ziegeln, die in der Sonne glänzten, und einer Wetterfahne oben auf der Spitze.
Es sah alles so friedlich aus, so echt, aber sie wussten genau, dass das nicht sein konnte. Sie zwickten sich gegenseitig in den Arm, riefen laut „Autsch!“, machten die Augen zu und wieder auf. Die weißen Tauben saßen gurrend auf dem Dach und putzten sich das Gefieder. Der Kater lag in der Sonne und döste. In diesem Moment überkam die Zwillinge eine innere Stille, die sie abschnitt von allen Geräuschen des Sommertages und sie fassten sich an den Händen. Schritt für Schritt gingen sie auf das Türmchen zu, Schritt für Schritt, immer schön langsam, bis sie schließlich vor einer kleinen Tür standen. Jede Geschichte, die man ihnen jemals über finstere Hexen und böse Zauberer erzählt hatte, schoss ihnen durch den Kopf. Ängstlich geworden machten sie einen Schritt zurück und drehten sich um. Doch da war nur dichter Nebel ringsumher. Das war ganz eindeutig: Zurück ging es nicht. So gaben sie sich einen Ruck, gingen entschlossen zur Tür und drückten die Klinke nieder. Natürlich! Die Tür war abgeschlossen. In stummer Übereinstimmung tasteten beide nach den Schlüsseln, die sie seit damals an einer Schnur um den Hals trugen – sei es als Erinnerung an einen schönen Traum, sei es, dass der Zirkusdirektor eines schönen Tages wiederkommen und danach fragen würde.

Es war Arlanas Schlüssel, der passte. Die Tür quietschte und klemmte ein wenig, aber mit vereinten Kräften schoben sie die Tür so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Innen war es eher dunkel, aber die schmale Treppe, die an der Wand spiralförmig nach oben lief, konnten sie gut sehen. Also mussten sie wohl nach oben. Arlana fühlte sich ganz schwindlig, allein vom Hinaufsehen. Doch Joey nahm sie an der Hand und eng aneinandergedrückt machten sie sich an den Aufstieg, Arlana innen und Joey, der schwindelfrei war, ging außen. Bei der achtzigsten Stufe blieben sie stehen.
„Wie kann das sein“, fragte Arlana ein wenig verzagt, „dass dieses kleine Türmchen so viele Stufen hat, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu?“
„Stimmt“, antwortet Joey und schaute hinab und erkannte, dass ein Stückchen hinter ihnen die Treppe verschwunden war. „Komm, es kann nicht mehr weit sein!“ Damit wollte er nicht nur Arlana, sondern auch sich Mut machen.
Dann endlich, nach weiteren achtzig Stufen, wurde es heller, die Treppe wurde breiter und sie gelangten in ein Turmzimmer, durch dessen offene Fensterbögen der Wind kräftig hereinblies. Als sie an das Fenster traten und hinaussahen, stockte ihnen der Atem. Wie hoch oben sie waren! Joey ergriff wieder Arlanas Hand, denn er merkte wohl, wie blass sie um die Nase wurde. Die Lichtung und auch ein Teil des Waldes lagen ringsum unter dichtem Nebel verborgen, aber weiter hinten, da konnten sie sogar das Dorf und aus einem anderen Fenster die Festwiese erkennen. Und nun? dachten sie gleichzeitig und sahen sich an, was kommt jetzt?
„Ich geh wieder runter!“, sagte Arlana, „das hier ist nichts für mich, viel zu hoch und außerdem …“ Mit drei schnellen Schritten war sie an der Treppe. Doch Joey war schneller. „Geh da nicht runter, sieh nicht hin. Die Treppenstufen sind hinter uns verschwunden. Wir müssen hierbleiben, müssen abwarten, was als nächstes passiert.“ Die letzten Worte hatte er nur noch geflüstert, denn auch ihn hatte zwischenzeitlich die Angst gepackt.
Sie sahen sich an, umarmten sich tröstend und als sie wieder aufsahen, hätte ihr Staunen hätte nicht größer sein können, wenn sie plötzlich einem Drachen oder einem Zwerg gegenüber gestanden wären. Der Raum hatte sich verändert, rundum steckten Buntglasscheiben in den Fenstern, Sonnenlicht fiel gleichmäßig hindurch und warf bunte Flecken auf den Fußboden, als wäre es ein Teppich. Ein Regal voller Bücher, das bis an die Decke reichte und vielleicht sogar noch darüber hinaus, stand jetzt mitten im Raum. Dicht an dicht standen die Bücher, eines schöner als das andere. Sie lasen, was in goldenen Lettern auf den Buchrücken stand. Es war einfach, wenn es in ihrer eigenen Sprache geschrieben war, manche Wörter konnten sie übersetzen, aber das meiste konnten sie nicht lesen, weil es ungewiss war, ob es sich überhaupt um Buchstaben handelte
„Das sind Märchenbücher“, entschied Arlana nach einer Weile, „unglaublich viele Märchenbücher, ganz bestimmt!“ Und Arlana hatte Recht, in diesem Regal waren alle Märchen der Welt versammelt: die Ältesten, die Schönsten, die Dümmsten, die Aufregendsten, die Fremdesten, die Traurigsten, die Lustigsten, die Grusligsten und noch viele mehr. Joey zog schließlich eines heraus und gemeinsam mit Arlana legte er es vorsichtig auf den Boden, denn es war schwer und groß.

„Die Karten von Duun-Ca-Doh“ stand in verschnörkelten Buchstaben vorne auf dem Einband. Auf der ersten Seite war ein Kästchen abgebildet und darunter standen die Worte: "Zieh deine Karten und das Abenteuer beginnt. Doch wähle gut, denn wählst du falsch, so wird es eine Reise ohne Wiederkehr!" Alle anderen Seiten aber waren leer, nicht ein einziger Buchstabe war zu sehen. Das Kästchen sah genauso aus wie das Kästchen, das der König damals in ihrem Traum in der Hand gehalten hatte. Und wie sie aufsahen vom Buch, stand das Kästchen gut sichtbar in einer Lücke im Bücherregal. Arlana hätte schwören können, dass es eine Sekunde zuvor nicht dort gestanden hatte. Joey überlegte nicht lange, sondern steckte seinen Schlüssel ins Schloss. Natürlich! Der Deckel sprang auf und gab den Blick frei auf einen Satz Spielkarten. Ein kalter Wirbelwind wehte aus dem Kästchen empor und trug sechs Karten mit sich, drei für Arlana, drei für Joey. Daraufhin klappte der Deckel wieder zu und der kalte Hauch fiel zu Boden, klirrend wie Splitter aus Glas. Im selben Moment verschwand das Regal mitsamt den vielen Büchern und stattdessen stand nun an dieser Stelle ein großer Spiegel.
„Na ja“, sagte Joey mit einem Blick auf die Karten, „eine echte Wahl hatten wir ja wohl nicht! Aber schön bunt sind sie, dann wollen wir mal hoffen, dass die Auswahl die Richtige war!“ Arlana nickte bestätigend und betrachtete ihre Karten ebenfalls. Und jetzt wussten sie auch, was zu tun war: Gleichzeitig machten sie den ersten Schritt, dann den zweiten und dann gingen sie in den Spiegel hinein, was sich anfühlte als gingen sie durch dicke Luft.

Ino das Ei

Es war einmal eine Kaiserin, die war die Herrin des Palastes. Ihr wirklicher Name war nicht bekannt, sie wurde von allen nur Orangina genannt, denn sie trug immer orangefarbene Kleider und sie hatte orangerotes Haar. Wenn sie auf ihrem weißen Pferd durch den Palast galoppierte und ihre langen Haare wild durch die Luft wehten, sah sie aus wie eine Flamme im Wind. Der Palast, dessen Kaiserin sie war, war unermesslich groß, größer noch als manches Land, so dass es Tage dauern konnte, um von einem zum anderen Ende zu gelangen.

Eines Morgens, es war ein Sonntag im Mai, wurde im Palast ein blaues Ei gefunden. Dass es überhaupt gefunden wurde, lag an einem Traum. Die Menschen, die im Palast wohnten, hielten viel auf Träume und achteten sie. Manches Mal, wenn sie seltsame Dinge träumten und nach dem Aufwachen danach handelten, kam es zu viel Durcheinander, aber meist war es genau richtig. So auch dieses Mal. Ihres Traumes wegen war die Kaiserin höchstpersönlich in den tiefsten Keller gestiegen, und hatte dort ein Ei gefunden, das war ganz klein und blau und lag in einem Nest aus Stroh. Neben dem Nest lag eine Krone dazu und ein Pfeil samt Bogen, das sollte dem Ei gehören, wenn es größer geworden war. Und in der Tat: Das Ei wuchs sehr schnell und war bald ausgewachsen. Da brachen an einigen Stellen Löcher in die Schale. Aus diesen Löchern wuchsen zwei Arme und zwei Beine hervor, ebenso zwei Augen und ein Mund. Der Name dieses Eis lautete Ino und als erstes setzte es sich die Krone auf den Kopf und nahm den Bogen in die eine und den Pfeil in die andere Hand.

Als Ino alt genug war, alleine zu wohnen, baute er sich ein Häuschen im Garten der Elfen, die dort in alten Eichen ihre Nester hatten. Wie er waren auch sie begeisterte Kartenspieler und so hatten sie viel Spaß miteinander. Anders als die Elfen besuchte Ino auch die anderen Gärten des Palastes, manche groß, manche klein, doch allesamt wunderschön. Auf einem dieser Ausflüge entdeckte er in einem der Gärten eine wundersame Blüte in allen nur erdenklichen Farben. Das war eine Schnappfliegblüte und einzigartig im Palast und Ino war sehr glücklich darüber, dass er sie entdeckt hatte. Sonst wuchsen in diesem Garten nur Lanzett-Lilien mit winzigen Blüten ohne eine bestimmte Farbe. Die Blätter hingegen waren schwertförmig und dunkelblau. Mit einem Griffband umwickelt dienten diese Blätter der Verteidigung gegen Riesenkellerasseln und Grottenolme, die im Palast eine grässliche Plage waren.
Die Schnappfliegblüte wurde sehr bewundert und später in eine Karte eingeprägt. Auf diese Weise wurde sie bewahrt für die Ewigkeit und erhielt zudem eine ganze Menge besonderer Fähigkeiten. Viele Dinge wurden in dieser Zeit in Karten eingeprägt. Die Elfen waren Meister darin, solche Karten herzustellen, und eines Tages prägten sie Ino höchstselbst in eine Karte.

Einmal im Jahr veranstaltete Kaiserin Orangina ein großes Turnier, das mit diesen besonderen Karten gespielt wurde und nur die besten Spieler nahmen daran teil.
Natürlich war Ino ein Meister dieses Spiels, nur von den Elfen übertroffen, die aber niemals an Turnieren teilnahmen. Weil Ino schon oft gewonnen hatte, enthielt sein Kartendeck viele besondere Karten, zum Beispiel das Schwert der Weisheit, das dafür sorgte, dass er seine Karten immer klug ausspielte. Sein Sprungdrache war legendär, denn er erschuf eine Blitzgrube, in die ein gegnerischer Angriff direkt hineingesogen und sogleich zurückgeschleudert wurde. Inos Lieblingskarte aber war die Schnappfliegblüte, denn richtig eingesetzt trotzte sie jeder Falle und überwand jede Verteidigung.

Joey gewinnt

Eines Tages, als Ino wieder einmal im Lanzett-Garten spazieren ging, fiel ein Junge vom Himmel, direkt in ein Federmoosgebüsch. Der Junge doppste noch ein paarmal auf und ab, bevor er einen Purzelbaum schlug und direkt gegenüber von Ino auf dem Boden sitzen blieb. Ino wunderte sich nicht. Immerhin lebte er nun schon einige Jahre im Palast und hatte gemerkt, dass hier viele Dinge möglich waren, die es woanders niemals gegeben hätte. Vielleicht, so überlegte Ino, hatte ein Storch den Jungen verloren, die waren ja immer sehr in Eile.

Joey schnappte nach Luft und bewegte vorsichtig seine Glieder. Erleichtert stellte er fest, dass er sich nichts gebrochen hatte bei diesem Sturz. Unwillkürlich sah er noch oben und ganz in der Ferne glaubte er, den Spiegel, aus dem er herausgefallen war, blinken zu sehen. Als er dann aber ein mit Pfeil und Bogen bewaffnetes Ei entdeckte, bekam er so einen Schreck, dass er rücklings umfiel und in ein Bächlein platschte, das hinter ihm dahinfloss.
„Brauchst keine Angst zu haben“, sagte das Ino freundlich und reichte ihm eine Hand. „Ich bin Ino.“
Joey zögerte einen Moment, bevor er die Hand des Eis ergriff und sich aus dem Wasser helfen ließ. Er schüttelte sich kräftig und zu seiner Verwunderung fiel das Wasser einfach so aus Haar und Kleidung und alles war wieder trocken.
„Hallo Ino!“, erwiderte Joey und setzte wieder auf den Boden. „Ich komme aus Duun-Cadoh, wie das zuging, weiß ich aber nicht. Aber du kannst mir bestimmt sagen, wo ich gelandet bin?“
„Aus dem Lande Duun-Cadoh!“, wiederholte Ino ehrfürchtig. „Es ist lange her, dass jemand aus dem Lande Duun-Cadoh im Palast war. Die Karten aus diesem Land waren sehr begehrt. Ich habe alles über die früheren Turniere gelesen, weißt du. Ja, schade, das diesjährige Turnier hast du leider verpasst, es ist schon vor ein paar Tagen zu Ende gegangen.“
„Was für ein Turnier?“, fragte Joey, der überhaupt nicht verstand, wovon das Ei redete. „Was für Karten?“
„Sag bloß, du kennst das Turnier nicht? Einmal im Jahr findet es statt und der Gewinner darf sich eine Karte des Verlierers aussuchen, das ist die wichtigste Regel“, erklärte Ino und bekam so ein Funkeln in den Augen. „Du kannst gegen mich spielen, wenn du willst! Oder warum bist du sonst hierher gekommen, ausgerechnet zu mir, dem Meisterspieler? Zeig mir doch mal deine Karten!“
„Ach lieber nicht“, sagte Joey, der mit einem Mal das Gefühl hatte, dass er genau das nicht tun sollte. „Ich will mich erst einmal ein bisschen umsehen. Führst du mich rum, du kennst dich hier doch aus?“
„Nichts da!“, antwortete Ino und sah mit einem Mal recht grimmig aus. „Ich fordere dich heraus. Du musst jetzt mitmachen, so ist die Regel!“
„Ich kenn die Spielregeln doch gar nicht, wie soll ich da spielen?“, erwiderte Joey. „Willst du mich betrügen?“
„Ich habe dich herausgefordert und du musst annehmen!“, schrie Ino, plötzlich wütend geworden und wurde ganz rot trotz seiner blauen Schale.

Die Hand in der Hosentasche, die Karten fest umklammert, stand Joey einfach nur da und wusste nicht so recht, ob er sich fürchten oder lachen sollte.
„Du musst die Herausforderung annehmen, das Ei namens Ino hat Recht, das ist die Regel“, wisperte es da plötzlich hinter Joeys Rücken, „aber wir werden dir helfen.“ Joey drehte sich um. Bestimmt hundert Elfen standen im Halbkreis hinter ihm.
„Aber das geht nicht!“, kreischte Ino empört, „so viele gegen einen, das ist nicht erlaubt!“
„Er besitzt die Helle Kraft und diese Karte erlaubt unsere Hilfe“, flüsterte die Elfenschar, „du bist der Herausforderer, du beginnst. Beide Spieler starten mit 100 Punkten!“

Ino nickte grimmig, gegen die vereinten Elfen kam er nicht an, also zog er. Zuerst legte er den Sprungdrachenoikund die Ino-Karte, beide im Verteidigungsmodus. Das war eine unschlagbare Kombination, die bisher noch jedem Gegner standgehalten hatte. Für den Angriff zog er das Schwert der Weisheit zusammen mit der Schnappfliegblüte. Gemeinsam waren seine Karten so stark, dass die Punkte von Joey sofort nach unten rasselten bis ihm nur noch 10 übrig blieben. Ha, dachte Ino grimmig, hab‘ ich dich!
Joey fielen fast die Augen aus dem Kopf, als die Bilder aus den Karten mit einem Mal lebendig wurde. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen, dachte Joey verzagt und holte seine drei Karten aus der Tasche. Seine erste Karte würde diejenige sein, die ihm weiterhin die Hilfe der Elfen zusicherte, soviel hatte er schon verstanden.
„Ich aktiviere die Helle Kraft im Verteidigungsmodus“, rief er laut und seine Punktzahl verbesserte sich deutlich. Prima, dachte er, das hat schon mal geklappt. Den Verrückten Drachen legte er im Angriffsmodus. Die Elfen verdoppelten dessen Kampfkraft, wodurch Ino die Hälfte seiner Punkte verlor. Schließlich legte er Mega Fliru, seine letzte Karte. Doch was war das? Inos Punkte stiegen wieder an, während seine sanken. So ein Mist, dachte Joey. Es stand 74 zu 40 für Ino, dann 74 zu 28 und dann 74 zu 4. Verloren, dachte Joey, ich habe keine Karten mehr. Mega Fliru war eine Zauberfalle mit langsamer Wirkung, was Joey nicht wusste und Ino auch nicht, denn er freute sich schon über seinen Sieg. Als Mega Fliru schließlich seine volle Kraft entfaltete, verloren Inos Karten sofort sämtliche Fähigkeiten und Ino alle seine Punkte.
„Yippi!“, lachte Joey, „ich habe gewonnen!“ Er hüpfte auf und ab und freute sich sehr, auch wenn er keinesfalls verstanden hatte, wie dieses sonderbare Kartenspiel eigentlich funktionierte. „Und jetzt kann ich mir eine von deinen Karten aussuchen, richtig?“
„Nein! Niemals!“, antworte Ino. So schnell hatte er noch nie verloren, das forderte Revanche und außerdem wollte der den Mega Fliru mit diesem besonderen Effekt unbedingt für sich gewinnen. „Das Spiel ist noch nicht vorbei!“, rief er deshalb, „und ich ziehe …“

„Vorsicht!“, unterbrach Joey ihn flüsternd. „Hinter dir bewegt sich was. Schau doch mal! Sag doch, was ist das bloß?“
„Was ist das denn für ein mieser Trick?“, fragte Ino empört. „Ich soll mich umdrehen, damit du mir in die Karten schauen kannst? Das gilt nicht!“
„Vertrau mir!“, wisperte Joey. „Dreh dich um und sag mir, was da los ist, du bist schließlich von hier!“ Und dann endlich drehte Ino sich um.
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Meister Sagubeh verliert

Hinter den Lanzett-Lilien bewegten sich rote Zackenlinien, die schnell größer wurden. Ino erkannte sofort, worum es sich handelte. „Das ist ein Roter Megadrache!“, rief er erschrocken. „Er beginnt sich auszudehnen, und wenn er fertig ist, wird er riesig und so gut wie unbesiegbar!“ rief Ino hektisch. „Wir müssen zusammenhalten, sonst sind wir verloren, zieh deine Karten, Joey! Los! Mach schon!“
„Jeder Spieler hat 100 Punkte!“, ertönte eine dumpfe Stimme aus dem Hintergrund.
Aha, dachte Joey, noch so ein Spiel und aktivierte seine Karten so wie vorhin. Dazu schnappte er sich eine abgebrochene Lanzett-Lilie, weil er dachte, gegen einen so echt aussehenden Drachen könnte eine Lanze vielleicht nützlich sein.
Ino aktivierte Schnappfliegblüte und im selben Moment griff der Rote Megadrache an. Zum Glück war der Rote Megadrache noch nicht zu seiner vollen Kampfgröße angewachsen. Die Schnappfliegblüte wehrte den Angriff erfolgreich ab und der Rote Megadrache schrumpfte zusammen wie ein Luftballon. Aber aufgrund seiner besonderen Fähigkeit verwandelte er sich im Augenblick der Niederlage in 96 Rotflügeldrachen, die sofort auf Ino und Joey stürzten.
„Aua!“, schrie Joey, „das Biest hat mich gebissen!“ Er aktivierte den Verrückten Weißen Drachen im Angriffsmodus und Mega Fliru als Verteidigung. Gleichzeitig stieß er die Lanzett-Lilie in die Wolke der Rotflügeldrachen, die nicht größer waren als Tauben, aber er traf keinen und seine Punkte wurden weniger.
Ino griff die Rotflügeldrachen mit dem Schwert der Weisheit an und setzte zur Verstärkung den Sprungdrachen und die Ino-Karte ein. Aber seine Punktzahl ging stetig zurück. Die Rotflügeldrachen waren einfach in der Überzahl.
Zum Glück verstärkten jetzt die Elfen den Verrückten Weißen Drachen, was sie durften, denn die Helle Kraft war noch unbesiegt. So gelang es schließlich, die Rotflügeldrachen zu besiegen. Ein Rotflügeldrache nach dem anderen trudelte als Spielkarte zu Boden, wo Joey sie mit seiner Lanzett-Lilie aufspießte. Dann hörte man einen schrecklichen Schrei und danach einen Knall und dann war alles wieder still.
„Der Rote Megadrache und die 96 Rotflügeldrachen haben ihre Fähigkeit verloren, Meister Sagubeh ist dauerhaft besiegt Er wird unverzüglich des Palastes verwiesen und darf nie mehr wiederkehren!“, sprach dieselbe Stimme wie zu Beginn des Spiels. „Das Ei der Kaiserin und der Ritter aus dem Lande Duun-Cadoh haben das Spiel gewonnen!“

„Puh“, sagte Ino und ließ sich ins Gras fallen. „Das war knapp! Zum Glück hattest du Helle Kraft. Ohne die Hilfe der Elfen wären wir besiegt worden.“
„Das war doch kein Spiel mehr! Das war echt gefährlich!“, sagte Joey halblaut, mehr zu sich selbst während er die aufgespießten Karten zählte: Es waren genau 96.
„Meister Sagubeh“, flüsterten die Elfen, „war der große Verlierer des letzten Turniers, der Rote Megadrache mit dem besonderen Verwandlungseffekt war seine letzte Karte. Damit griff er immer wieder an, ohne sich an die Regeln zu halten. Er hoffte, neue Karten zu gewinnen. Aber heute hat er auch seine letzte Karte verloren und darf den Palast nicht mehr betreten. Das ist die Regel.“ Joey verstand kein Wort und sogar Ino, der einiges Mehr an Merkwürdigkeiten gewohnt war, wunderte sich. „Aber schaut“, flüsterten die Elfen weiter, „was er dagelassen hat.“ Sie hielten einen kleinen Zauberstab in Händen und einen goldenen Ring. „Das habt ihr gewonnen. Der Ring ist für das Ei der Kaiserin, denn es hat Freude an solchen Dingen. Der Zauberstab ist für den jungen Ritter aus dem Lande Duun-Cadoh, der kann ihn wohl gut gebrauchen. Die verbliebene Zauberkraft sollte reichen, um die Aufgabe zu vollenden, ja sie sollte reichen …“ Das Flüstern wurde schwächer, erstarb ganz und die Elfen waren verschwunden.
„Hier“, sagte Ino und hielt Joey eine Karte hin, „ich schenke dir meine Schnappfliegblüte, denn ohne deine Hilfe hätte ich heute verloren.“
„Oh, vielen Dank!“, sagte Joey überrascht und steckte Karten und Zauberstab in die Hosentasche. „Ich weiß zwar nicht, was die Elfen meinten. Ein Schwert wäre mir lieber, dann könnte ich Ritter werden.“
„Na dann fragen wir doch mal die Kaiserin“, schlug Ino vor, „vielleicht hat sie ja ein Schwert für dich. Komm, wir gehen in den Thronsaal.“

Sie waren eine ganze Weile unterwegs und Joey wusste nicht, wo er zuerst hinschauen sollte, so viel Wunderbares und so viel Merkwürdiges gab es zu sehen auf dem Weg dahin. Im Thronsaal angekommen verbeugten sich beide artig vor der Kaiserin und Ino erzählte, was sich zugetragen hatte. Die Kaiserin war sehr erfreut, dass Meister Sagubeh aus dem Palast verbannt worden war. Zum Dank schenkte sie Ino noch einen Ring. Joey hingegen schenkte sie ein echtes Schwert, genau passend für ihn. Für den Abend lud sie die beiden ein zu einem Fest, das die ganze Nacht dauerte.

Am nächsten Morgen erwachte Joey erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Erstaunt stellte er fest, dass er nicht in dem schönen Himmelbett lag, in dem er eingeschlafen war, sondern auf dem Boden und nicht einmal eine Decke hatte er. Und wie er sich so umsah, erkannte er, dass er sich im Turmzimmer befand. Ach, dachte er ziemlich enttäuscht, das war alles nur ein Traum. Doch wie er sich umdrehte, sah er neben sich ein Schwert liegen, und er jauchzte laut auf vor Freude. Und in der Hosentasche fand er alles andere auch noch: Den kleinen Zauberstab des Sagubeh und die Schnappfliegblüte des Ino. Da lachte er laut und voller Freude und er lachte immer weiter und konnte gar nicht mehr aufhören.

Die Kröte

Luttmach war ein kleiner, unbekannter Stern jenseits der Milchstraße. Bewohnt wurde er von den Sylfen, das waren nette und fröhliche Leute. Wann immer sich eine Gelegenheit fand, feierten die Sylfen fröhliche Feste, denn sie sangen und tanzten gar zu gerne.

Das Land war silberweiß wie Schnee, doch ohne zu blenden. Weiß waren auch die Pflanzen und die Tiere, die Pflanzen mehr grün-weiß, die Tiere mehr blau-weiß, so dass sie trotz der weißen Landschaft recht gut zu erkennen waren. Die Berge waren lila, unten dunkler, oben heller, und unendlich hoch, so hoch, dass die Gipfel von unten nicht zu erkennen waren. Das Wasser war türkis und überzog mit seinen zahlreichen Flüssen und Seen das weiße Land mit einem schönen Muster. Trotz alledem war es eine etwas eintönige Angelegenheit.
Deswegen liebten die Sylfen alles Bunte. Sie wohnten in bunt angemalten Häusern, in Dörfern und Städten. Ihre Kleidung war bunt und vielfältig geschneidert und obwohl alles wild durcheinander ging, passte doch alles wunderbar zusammen.
Die Farben, mit denen sie ihre Häuser anmalten und ihre Stoffe einfärbten, gewannen Sie aus Dalljyen, die zur Reifezeit sehr große und bunte Blüten bekamen. Wurden die Blüten zur richtigen Zeit gepflückt und auf bestimmte Weise verarbeitet, ließen sie sich verflüssigen und in Flaschen abfüllen. Ließ man die Blüten stehen, so dass sie auf dem Feld verwelkten, verschwand die Farbe und sie wurden durchsichtig wie Glas und ebenso hart, aber auch biegsam. Daraus fertigten die Sylfen Schmuck und Knöpfe, Nadeln und Besteck und vieles mehr.

Die Sylfen verfügten über ein wenig Zauberkraft, die sie zum Schutz von Luttmach eingesetzt hatten. Vor langer Zeit, nach einem Überfall durch die Leute vom Nachbarstern, hatten sie nach etwas gesucht, womit sie sich schützen könnten. Gebaut hatten sie schließlich eine Falle, in die hineingesogen wurde, was mit böser Absicht zu ihnen kam. Am anderen Ende der Falle, weit fort von Luttmach, wurde alles wieder ausgespuckt und war verwandelt und silbern. Leider war nicht immer zu erkennen, welche Absicht jemand hatte und im letzten Sommer hatte die Falle nicht funktioniert, was aber erst später bemerkt wurde. Im Nachhinein wird man aber sagen können, dass das Böse nicht absichtlich geschehen war, so dass deswegen die Falle in jenem Jahr nicht zuschnappte.

Cajenn war ein kleines Dorf, das am Rande eines Sees lang. Am Ende des Dorfes, oder auch am Anfang, je nachdem, aus welcher Richtung kam, wuchsen an der Stelle, wo der Fluss in den See strömte, drei große Trauerweiden und reichlich Gebüsch, so dicht, dass kein Durchkommen war. Die Kinder nannten den Ort Mibo. Generationen von ihnen hatten geheime Wege angelegt und Häuschen gebaut, die gepflegt und gehegt wurden und von denen die Erwachsenen nichts wussten. Das heißt, natürlich hätten sie es gewusst, wenn sie sich erinnert hätten, aber weil es ein Geheimnis der Kinder bleiben sollte, vergaßen die jungen Leute auf dem Weg zum Erwachsenwerden die geheimen Gänge und Höhlen im Weidengestrüpp. Es war ein Geheimnis, das sich selbst schütze und im Laufe der Zeit war Mibo deswegen zu einem magischen Ort geworden.

Es regnete in Strömen und das nun schon seit Tagen, was ungewöhnlich war, denn es war mitten im Sommer. Nur ein Schritt vor die Tür genügte, um klatschnass zu werden. Oran und seine Freundin Kara hätte das nicht gestört, aber die Sylfen schlossen bei Regen die Türen ab und gingen nicht hinaus. Das war Tradition, das machte man so und daran hielt man sich, auch wenn keiner wusste, warum das einst so entschieden worden war. Oran, ein kluger Junge und der Beste in der Schule, erforschte während der Regentage genau dieses Ausgehverbot. Drei dicke Hefte schrieb er voll mit seinen Theorien. Kara mochte die Schule nicht. Sie war deswegen nicht dumm, das meiste, was an der Schule gelehrt wurde, interessierte sie einfach nicht. Sie war am liebsten draußen und pflegte die Dalljyenfelder. Wenn es da nichts zu tun gab fand man sie im Dalljyenlabor. Ihre Leidenschaft ging so weit, dass sie sich zuhause ein kleines Labor eingerichtet hatte. So hatte auch sie während der Regentage gut zu tun, denn sie entwickelte mit Leidenschaft neue Farbkombinationen und hatte es dabei trotz ihrer Jugend schon zu einer gewissen Meisterschaft gebracht.

Fünf Tage lang konnten sich Oran und Kara also wegen des Regens nicht sehen. Doch kaum war der letzte Tropfen gefallen, trafen sie sich auf dem Dorfplatz und liefen schnell nach Mibo hinaus. Beide hatten es eilig: Kara weil sie wissen wollte, ob der Dauerregen ihrem geheimen Dalljyenbeet geschadet hätte und Oran, weil er wissen wollte, ob die Wassserableitung, die er um das Beet angelegt hatte, ihren Zweck erfüllt hatte. Das war zum Glück der Fall, den kleinen Pflänzchen ging es gut, der Regenwasserablauf hatte seinen Zweck erfüllt.
„Kara, komm, schau mal, schnell!“, rief Oran, der auf dem Boden herumkroch Blätter aus seinem Abflusssystem sammelte. „Schnell! Und bring einen Eimer!“
„Igitt!“, kreischte Kara. „Ist das eklig! Fass das nicht an! Das ist bestimmt giftig! Und schau doch, das ist doch bestimmt krank, das hat die völlig falsche Farbe!“
„Keine Sorge, ich werde DAS nicht anfassen, denn giftig könnte sie wohl sein, aber krank ist DAS bestimmt nicht. Ich würde sagen, DAS ist eine Kröte. Eine ganz neue Art und ich habe sie entdeckt. Ja! Genau!“ Vorsichtig schob er die Schaufel unter die Kröte und ließ sie dann in den Eimer gleiten, den er zuvor mit feuchtem Gras ausgepolstert hatte. „Sie wird deswegen so dunkel sein, weil sie unter der Erde lebt. Genau aus diesem Loch ist sie herausgekrochen.“ Kara starrte angewidert in den Eimer, in welchem nun die Kröte hockte. Oran stocherte mit einem langen Stock in dem Loch herum. „Da ist alles voller Wasser, wahrscheinlich hat sie der Regen herausgespült, sonst wäre sie nie herausgekommen. Sie ist das Tageslicht nicht gewöhnt. Nur deswegen ist sie schwarz!“ erklärte Oran. „Sie ist etwas ganz Besonderes!“
„Igitt! Igitt! und nochmal! Igitt!“, rief Kara wieder. „Schwarz! Das ist sowas von hässlich! Schwarz! Das ist gar keine Farbe! Schwarz! Das gibt es nicht!“
„Doch!“, widersprach Oran. „Natürlich! Und du weißt das auch! Schwarz entsteht, wenn man alle Pflanzenfarben mischt, so wie weiß entsteht, wenn man alle Lichtfarben mischt, denn Schwarz und Weiß enthalten alle Farben zusammen! Ich glaube, das ist eine ganz besondere Mutation.“
„Mutation! Hört! Hört!“, rief Kara empört, „das hast du dir fein ausgedacht. Schwarz passiert dann, wenn man beim Mischen der Farben nicht aufpasst und man am Ende alles wegschütten muss. Kein Mensch will schwarze Kleider oder schwarze Häuser. Schwarz ist einfach nur doof und diese blöde Kröte ist einfach auch nur doof. Schau sie dir doch an, wie dämlich sie glotzt und wie sie sabbert und schleimt, sogar der Schleim ist ganz schwarz. Oran, das ist so eklig! Stopf sie wieder in das Loch, aus dem sie herausgekrochen ist! Oran! Hörst du mir überhaupt zu? Oran! Lass die Kröte wo sie ist! Schau, es ist gleich Zeit nach Hause zu gehen und die Pflanzen müssen noch an die Stöcke gebunden werden!“ Sie sah nicht hin, während sie mit Oran sprach, sondern befestigte auf ihrer Seite die Stöcke zügig an den kleinen Pflänzchen. Oran rührte sich nicht, sondern kniete immer noch am Boden und starrte die Kröte an, die unbeweglich im Eimer saß.
„Oran!“, ihre Stimme klang mehr als ärgerlich. „Was glotzt du diese Kreatur die ganze Zeit an und ich mache die Arbeit ganz allein? Die bewegt sich nicht und schleimt nur rum, die ist bestimmt tot. Lass die Kröte, wir gehen jetzt nach Hause. Schlimm genug, dass ich alles alleine machen musste.“ Sie stand auf und klopfte sich den Dreck von den Hosenbeinen, soweit das eben ging. Oran bewegte sich nicht. „Oran! los, komm, wir gehen!“, schimpfte sie.
„Schau nur! Was für schöne Augen sie hat! Ganz golden sind sie und ganz tief!“, sagte Oran, mehr zu sich selbst, als zu Kara. Aber sie hatte jedes Wort gehört.
„Ich glaube du hast einen Sonnenstich, mein Freund!“ schimpfte Kara weiter. „Da ist nichts Goldenes in den Augen, die sind einfach auch nur S.C.H.W.A.R.Z!“ Die Kröte blinzelte einmal und da sah Kara es auch: Golden und tief leuchteten mit einem Mal die Augen der kleinen Kröte. „Also gut“, lenkte Kara ein, „dann nimm sie mit für dein Terrarium, aber komm endlich, ich habe Hunger!“ Da schnappte Oran den Eimer, legte den Deckel drauf und sie machten sich auf den Heimweg. Kara lief voraus, weil sie wirklich sehr Hunger hatte und weil Oran so sehr trödelte. Jeden Regenwurm und jeden Apfel, an dem er vorüberkam, hob er auf als Futter für die kleine schwarze Kröte.

„Und?“, fragte Kara am anderen Tag. „Was hat deine Mutter gesagt, als du ihr die Kröte gezeigt hast?“
„Gar nichts“, antwortete Oran, „sie hat sie noch nicht gesehen. Ich habe sie im Rathaus ins Terrarium getan, das ist im Keller und es gibt nur ein winziges Fenster und es steht gerade leer. Und ich weiß ja wirklich nichts über diese Kröte, es könnte auch eine Raubkröte ist, denn sie hat alle Regenwürmer sämtliches verspeist, aber auch die Äpfel haben ihr geschmeckt.“
„Gut!“, erwiderte Kara, „eine sehr vernünftige Entscheidung. Man weiß nie, wie sich so ein Tier verhält, wenn es aus seiner gewohnten Umgebung herauskommt.“
„Heute Abend kommen alle und schauen sie an!“, verkündete Oran stolz. „Ich habe eine Einladung ausgesprochen und werde eine Rede halten und dann eine kleine Feier auf dem Dorfplatz veranstalten. Schließlich bin ich jetzt der berühmteste Entdecker von ganz Cajenn, wenn nicht gar von ganz Luttmach.“ Kara bog sich vor Lachen, und sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. „Ich mein das sehr ernst, Kara!“ sagte Oran. „Sag mir, wann das letzte Mal eine neue Tierart entdeckt wurde und dann kannst du lachen und ich werde nicht beleidigt sein.“
„Du hast ja recht!“, gab Kara zu, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, „es ist schon lange nichts mehr entdeckt worden.“

Es ging den Leuten an jenem Abend so, wie es Kara ergangen war. Zuerst schrien sie „Igitt“ und fanden die Kröte hässlich, aber sobald jemand das goldene Leuchten in ihren Augen hatte aufblitzen sehen, ekelte er sich nicht mehr vor ihr. So kam es, dass in den ersten Tagen viele Leute kamen, um die Kröte zu besichtigen.
Nach einer Weile ließ das Interesse der andern nach. Einzig Oran, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Kröte zu versorgen und zu erforschen, war täglich bei ihr. Er maß täglich ihre Körpergröße und trug die Zahlen in eine Tabelle ein. Die Kröte als Ganzes nahm er hingegen nicht wahr. So war es Kara, die ihn eines Tages abholen kam und laut ausrief: „Oran! Was hast du mit der Kröte gemacht? Was um Himmels willen hat dieses Vieh gefressen? Die ist ja riesig geworden.“ Als wäre er gerade erst erwacht, sah er Kara verständnislos an, dann blinzelte er mehrmals und dann sah er es auch: Die Kröte war wirklich enorm gewachsen.
„Kara, glaub mir“, sagte er und kam hervor hinter seinem Studiertisch und stellte sich neben Kara. „Ich habe das nicht gesehen! Ich habe nicht gesehen, wie sie so schnell und sie viel gewachsen ist.“ Er schüttelte den Kopf und ging um das Terrarium herum. Es war aus solidem Glas gebaut, maß mehrere Meter im Quadrat und war so hoch wie er groß war. Die Kröte saß aufrecht darinnen und hatte kaum noch Platz. „Oran!“, flüsterte Kara eindringlich. „Wir müssen der Ratsherrin Bescheid sagen, unverzüglich, hier stimmt was nicht, kein Tier kann so schnell so wachsen!“
Sie hatten noch keine fünf Stufen der Treppe geschafft, als die Kröte zu quaken begann, gerade so, als riefe sie nach ihnen. Oran und Kara blieben sofort stehen, denn es war das erste Mal, dass die Kröte einen Laut von sich. Oran wollte schon zurückgehen, aber Kara hielt in fest. „Wir müssen hier weg!“, flüsterte Kara, die mit dem Schlimmsten rechnete, denn das Terrarium sah aus, als könnte es jeden Augenblick zerbersten. Sie zog und zerrte an Oran, der sich jedoch nicht bewegte. Das Quaken der Riesenkröte wurde immer lauter, wandelte sich zu einer Art Singsang, bis sich zuletzt die Töne melodisch aneinanderreihten. So standen die beiden eine Weile und hörten der Kröte zu. Schließlich gingen sie nach Hause, ohne ein Wort des Abschieds, jeder für sich.
Und wie den beiden erging es allen anderen auch. Einer nach dem anderen kam, hörte der Kröte eine Weile zu. Es war sehr verwunderlich, dass überhaupt jemand freiwillig in den Keller stieg, um sich das traurige Gequake anzuhören. Aber es kamen alle, nach und nach, einer nach dem anderen und danach sprachen sie nicht mehr miteinander und hatten vergessen wie man lacht und sämtliche Freude war aus ihren Herzen verschwunden. Auch die Farben verschwanden, was noch verwunderlicher war. Die Farbe der Kleider und die der Häuser verblasste, bis nichts mehr davon übrig blieb. Sogar die Dalljyen auf den Feldern waren am Ende ganz weiß. Aber die Kröte wurde jeden Tag ein wenig bunter.

Arlana gewinnt

Arlana schlug die Augen auf, aber düster wie es war, konnte sie nichts von der Umgebung erkennen. Es roch muffig, wie in einem alten Keller. Die Hände vorgestreckt und tastete sich behutsam voran, hin zu einer Kerze, die in einem rußigen Behältnis auf einem Tisch stand und flackerndes Licht verbreitete. Vor dem Tisch stand ein Stuhl, auf diesen setzte sie sich und betrachtete die Karten, die da herumlagen. Es waren viele Karten, die meisten lagen verdeckt. Es sah so aus, als wären zwei am Spielen gewesen, und nur mal kurz weggegangen. Eine Karte nahm sie hoch, drehte sie um. Ein Mädchen war darauf abgebildet, das aussah wie sie, aber es hatte Flügel. Nicht solche wie Engel, sondern solche, wie Raben sie hatten.
„Warum?“, quakte plötzlich eine Stimme hinter ihr, „hast du meine Karten angerührt?“
Arlana hielt vor Schreck die Luft an. Eine sehr alte und sehr große Kröte watschelte aus der Dunkelheit ins Licht. Die Haut der Kröte hing in Fetzen herunter und sie kletterte mit einiger Mühe auf den Stuhl gegenüber von Arlana.
„Ich bitte um Entschuldigung!“, sagte Arlana mit zittriger Stimme und machte Anstalten aufzustehen, „ich wollte sie mir nur ansehen.“
„Das ist nicht erlaubt“, brüllte die Kröte mit Donnerstimme und Nebel quoll aus ihrem Maul und ihre Zunge schoss heraus und schnappte sich die Karte mit dem Rabenmädchen aus Arlanas Hand. „Und fortgehen ist auch nicht erlaubt! Setz dich. Du musst bleiben, bis die andere wiederkommt.“
„Wann kommt sie denn wieder?“, fragte Arlana mutig. „Ich kann nicht lange bleiben, ich habe noch zu tun!“
„Ach ihr Menschen, ihr habt es immer eilig, habt immer zu tun!“, schnaubte die Kröte und schüttelte sich, wobei Fetzen von Haut abflogen. Ein Teil davon landete auf Arlanas Arm und sie schnippte es angewidert auf den Boden. „Wann die andere wiederkommt, weiß ich nicht. Kommt sie nicht wieder zurück, bleibst du, bis dass noch eine andere kommt.“ Mit ihren Krötenfingern sammelte sie blitzschnell die Karten ein, mischte sie neu und verteilte sie. Ein Häufchen für Arlana, das andere für sie selbst. „Wenn du gewinnst, dann lasse ich dich laufen und du darfst eine Karte behalten. Wenn ich gewinne, bleibst du bei mir. Die andere hat auch gewonnen und ist dann fort, du siehst, ich halte Wort.“ Mit diesen Worten beendete die Kröte das Mischen und Austeilen, hatte aber nicht vor, Wort zu halten, denn einem Menschenwesen galt ihr Wort nicht, nur Kröten gegenüber musste sie es halten. Deswegen hatte sie die kleine schwarz Kröte ziehen lassen, was sie sehr bedauerte, denn Kröten waren ihr lieber als alle anderen Wesen.
Arlana seufzte ergeben, nahm den ihr zugewiesenen Stapel. „Wie sind die Regeln?“, fragte sie dann, „ich kenne diese Karten nicht, wie heißt das Spiel, vielleicht kenne ich es ja doch?“ Arlana plapperte, wie sie selbst wusste, dummes Zeug, und überlegte derweilen, wo sie solche Karten schon einmal gesehen hatte. Doch umsonst, sie erinnerte sich nicht. So saß sie nur da, sah auf die Karten in ihrer Hand.
„Bereit!“, sagte Arlana schließlich, denn dass die Kröte keine Erklärungen abgeben würde, war mehr als offensichtlich.
Schweigend spielten sie Stunde um Stunde. Mal gewann Arlana, mal die Kröte, die nach jedem Spiel Münzen von einer Schale in die andere legte oder umgekehrt. Arlana hatte immer noch keine Ahnung von den Regeln sondern legte die Karten einfach so, wie es ihr gerade passend erschien. Sie spielten solange, bis Arlana die Arme auf den Tisch legte, den Kopf darauf bettete und einschlief.

Arlana erwachte und es war düster. Es roch muffig, wie in einem alten Keller. Jemand rüttelte an ihrer Schulter. Als sie die Augen öffnete, sah sie direkt in das Gesicht einer riesigen Kröte, deren Haut in Fetzen hing. Da fiel ihr alles wieder ein und mit einem lauten „Nein“ saß sie aufrecht auf dem Stuhl, auf dem Tisch vor sich ein Stapel Karten. Sie fragte sich mit einem Mal, wie oft sie hier wohl schon aufgewacht war, ohne sich an den Vortag zu erinnern, ohne Zeitgefühl.
„Weiter geht’s, Schätzchen!“, quakte die Kröte und knallte ihre erste Karte auf den Tisch.
„Nein!“, traute sich Arlana zu sagen. „So geht das nicht! Erst muss ich die Namen der Karten erfahren und die Regeln, sonst mache ich gar nichts!“
„Ja, selbstverständlich!“, antworte die Kröte, „wer fragt bekommt immer eine Antwort!“ Was natürlich nicht stimmte, aber die Kröte war wohlgelaunt und dachte nicht, dass es schaden könnte, diesem Menschenkind von den Karten zu erzählen. Auf diese Karten war sie mächtig stolz. Selbstverständlich würde sie nie eine davon hergeben. „Das sind“, antwortete die Kröte hoheitsvoll, „die berühmten Karten von Duun-Cadoh! Diese Karten sind schon sehr lange im Besitz meiner Familie, es ist noch nie eine verloren gegangen, aber es wurden einige dazugewonnen. Ich gewinne immer welche, wenn ich Besuch bekommen. So wird es auch jetzt sein, denn auch du hast Karten dabei, die ich gewinnen werde, nicht wahr Schätzchen, du hast Karten dabei?“
„Nein“, erwiderte Arlana automatisch, „ich habe keine Spielkarten.“
„Lügnerin!“, quakte die Kröte, „du miese kleine Lügnerin, natürlich hast du Karten, denn ohne Karten kommt hier keiner rein!“
Arlana sah die Kröte mit großen Augen an und griff langsam in ihre Tasche. Und ja, sie holte Spielkarten heraus, genau drei Stück. Sie hatte diese Karten schon einmal gesehen, dessen war sie gewiss, aber wo? „Ich hatte keine Ahnung“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu der Kröte. „Und ich weiß auch nicht, wie meine Karten heißen, aber deine Karten heißen so wie das Land, aus dem ich komme. Wie kann das sein?“
„Das weiß ich doch nicht“, erwiderte die Kröte. „Das ist mir auch egal. Sie gehören mir, egal wie die Karten heißen und egal woher du kommst.“
„Aber vielleicht gehören sie ja mir“, protestierte selbst überrascht von ihrem Widerspruch. „Schließlich komme ich aus Duun-Cadoh.“
„Nein, niemals!“, schrie die Kröte und schüttelte sich so heftig, dass ziemlich viel Hautfetzen durch die Gegend flogen und Arlana den Kopf einzog. „Das sind meine Karten! Und ich will jetzt spielen!“ Und mit diesen Worten klatschte sie ihre erste Karte auf den Tisch und funkelte sie mit ihren riesigen Krötenaugen drohend an.
Arlana nickte ergeben, doch dann musste sie lächeln, denn mit einem Mal wusste sie ganz genau was sie tun musste, um zu gewinnen. „Ich aktiviere Time Wizzard und mache damit deinen Zug unwirksam!“, rief Arlana laut und ganz aufgeregt und klatschte die erste ihrer Karten auf den Tisch. „Dann lege ich Chaosmagie zu meiner Verteidigung, dann fusioniere ich Chaosmagie mit Time Wizzard, und dadurch wird das Spiel beendet. Und zum Schluss lege ich Diamant und bringe damit Klarheit ins Dunkel und Ordnung ins Chaos.“
Die Kröte fiel vor Schreck vom Stuhl und Arlana lachte laut und wild. Sie schnappte sich ihre Karten und zwei der Kröte und rannte davon. Ohne hinzusehen wusste sie, dass sie Sticcor Feuervogel und das Rabenmädchen erwischt hatte. Bis auf Diamant steckte sie alle in die Tasche. Sie hielt Diamant vor sich wie eine Lampe und fand so ihren Weg, bis sie schließlich aus einer Erdspalte herauskrabbelte. So kam Arlana ins Land der Sylfen.

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Merle kommt zurück

Merle kehrte von einer längeren Reise nach Cajenn zurück. Sie kam am späten Abend in der Dämmerung, zu Fuß, wie sie es immer tat und war rechtschaffen müde. Sie traf an diesem Abend nur wenige Leute auf der Straße und die wenigen antworteten nicht auf ihren Gruß. Sie sahen sie auch nicht an, sondern gingen an ihr vorbei, so als wäre sie nicht da. Merle begriff nicht, was mit den Leuten los war und wunderte sich sehr. Da packte sie jemand am Arm und zog sie in eine schmale Gasse zwischen zwei Gebäuden. Merle stolperte vor Schreck, und fiel auf die Knie. Fluchend kam sie wieder auf die Beine und sah vor sich Ihro, ihren Neffen.
„Was ist los?“, schrie sie laut, denn das unheimliche Verhalten der Leute hatte sie sehr erschreckt. „Ihro! Was ist los?“, Sie packte ihn und schüttelte ihn. „Was ist los?“
„Leise, Merle! Sprich leise!“, ermahnte sie Ihro statt einer Antwort. „Sie darf dich nicht hören, sie hat einen leichten Schlaf!“
„Was? Wer?“, rief sie immer noch recht laut und als Antwort packte Ihro sie wieder am Arm.
„Leise, sei still, sofort!“, zischte Ihro ihr ins Ohr und zog sie mit sich, um ein paar Ecken, dann in einen Obstgarten und dort in einen Schuppen, dessen Tür er von innen sorgfältig zuschloss.
„Himmel, Ihro!“, flüsterte sie nun auch, „was ist los? Was ist passiert? Warum benehmen sich alle so seltsam?“
Statt einer Antwort warf sich Ihro in ihre Arme und begann, bitterlich zu weinen. Merle wiegte ihn sanft, strich im sachte über Kopf und Rücken, bis er sich beruhigt hatte. Schließlich erzählte er ihr von der Kröte, wie Oran sie nach einem starken Regen in Mibo gefunden hatte, wie stolz er gewesen war und wie die Kröte gewachsen war. „Und am Ende hat sie allen die Fröhlichkeit weggenommen und alle unsere Farben sind verschwunden.“
„Aber du sprichst noch mit mir, zum Glück“, sagte Merle, „und darüber bin ich sehr froh. Ich mag das alles gar nicht glauben. Aber sag, warum bist du davongekommen?“
„Ich hatte Ohrenschmerzen in den ersten Tagen als es losging“, erklärte Ihro, „Mutter hatte mir dicke Wattebäusche mit Heilöl in die Ohren gesteckt, in beide Ohren, obwohl nur ein Ohr wehtat, du weißt doch, wie grässlich das riecht.“
„Ja, das weiß ich“, unterbrach Merle ihn unwirsch, „aber warum hat die Kröte dir die Farben und deine Fröhlichkeit nicht genommen?“
„Ich konnte sie nicht hören mit der Watte in den Ohren. Als die Schmerzen weg waren habe ich sie rausgenommen und da habe ich die Kröte gehört zum ersten Mal gehört. Es war so schrecklich, dass ich die Watte schnell wieder reingesteckt habe. Und dann habe ich mich versteckt, ich komme nur raus, wenn es dunkel ist. Ich bin so allein, und ich bin so froh, dass du wieder da bist. Jetzt wird alles wieder gut!“
„Was ist mit den anderen?“, fragte Merle. “Warum haben sie nicht gemeinsam die Kröte vertrieben?
„Sie sprechen nicht miteinander“, antwortete Ihro verzagt, „sie kennen sich nicht mehr, sie essen und tun alles, was getan werden muss, aber sie sprechen nicht miteinander. Ich hab sogar farblose Kleidung angezogen, doch sie erkennen mich nicht. Der Gesang der Kröte verdreht ihre Gedanken. Morgen wirst du das sehen. Es kommen jetzt schon Leute aus anderen Dörfern, und denen geht es genauso, einer kommt, schaut nicht rechts und links, geht ins Krötenhaus und wenn er wieder rauskommt, ist seine Kleidung blass und seine Augen matt.“
„Wir müssen diese Kreatur verjagen, zurückbringen, zurück ...“, Sie hielt einen Moment inne. „Ja, das macht Sinn“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Ihro. „Mibo ist mit den Jahren magisch geworden. Das ist vielleicht der Grund, dass diese Kreatur, die niemals von unserer Welt stammen kann, dort aus dem Boden gekrochen ist.“
„Aber die Falle“, warf Ihro ein, „die Falle hätte sie doch einfangen und fortschaffen müssen. Sie muss von hier sein.“
„Wahrscheinlich“, antwortete Merle düster, „hat die Falle nicht funktioniert. Oder die Kröte hatte keine bösen Absichten, dann kann sie nicht funktionieren. Doch was für Absichten hat sie dann?“ Merle schwieg nachdenklich. „Wir schaffen das, auch wenn es schwierig ist. Aber zum Glück bist du nicht ihrem Bann verfallen, zum Glück bist du bei mir. Wir schicken sie zurück! Gemeinsam! Versprochen! Aber davor müssen wir zurückholen, was sie gestohlen hat und dann …“ Sie beendete den Satz nicht. Lange schaute sie Ihro an und Ihro schaute zurück. „Wir brauchen einen Plan“, sprach sie nach einer Weile weiter, „einen Plan und ...!“ Ihro nickte. „Als erstes schauen wir uns an, wo alles angefangen hat.“ Ihro schüttelte den Kopf. „Doch, da gehen wir hin, gleich nachher, sobald der Mond aufgegangen ist, dann ist es hell genug. Und du kommst natürlich mit, ich kenne die Wege in Mibo nicht mehr. Am besten gehen wir gleich los“, bestimmte Merle, „dann sind wir schon dort, wenn der Mond aufgeht. Heute ist Vollmond! Das ist gut!“

Ohne Verzögerung gelangten sie zum Weidengestrüpp und Ihro führte Merle, die sich tatsächlich nicht mehr an die Wege erinnerte, bis zu dem kleinen Loch im Boden, wo Oran die Kröte gefunden hatte.
Als ein Mondstrahl auf das Loch fiel, begann mit einem Mal ein lautes Knirschen und Poltern und aus dem Loch kam etwas heraus. Erst eine Hand, dann eine zweite und wider jede Vernunft begannen Ihro und auch Merle laut zu schreien. Merle, die sich schneller wieder fasste, hielt Ihro den Mund zu und trat ein paar Schritte weiter zurück in den Schatten. Vor Entsetzen zitternd beobachteten beide die Kreatur, die dabei war, aus dem Loch zu kriechen.

Was ist das für ein Geschrei, dachte Arlana erschreckt, wo bin ich jetzt nur wieder gelandet? Sie sah sich um. Die Luft riecht frisch, dachte sie erleichtert, und es scheint sogar der Mond, vielleicht wird ja doch noch alles gut. Mit einer letzten Anstrengung wuchtete sie sich aus dem Loch und sah ungläubig zu wie das Loch mit einigem Gepolter zusammenstürzte und nichts mehr davon übrig blieb, als eine leichte Bodensenke. Nicht wissend, was sie als nächstes tun sollte und wischte sich die schmutzigen Hände an ihrer Schürze ab.

Merle beruhigte sich ein wenig, als sie diese vertraute Geste erkannte, denn ein Ungeheuer würde sich wohl nicht die Mühe machen, die Hände abzuwischen. Da streifte ein weiterer Mondstrahl das Wesen und Merle erkannte ein Mädchen. Es sah zumindest aus wie ein Mädchen, aber wenn es eines war, dann war es garantiert nicht von hier.
„Mädchen!“, rief Merle forsch und trat einen Schritt näher, gebot Ihro aber mit einer Handbewegung, sich weiterhin versteckt zu halten. „Kannst du mich verstehen? Wo kommst du her? Was willst du hier bei uns?“ Arlana zuckte zusammen, drehte sich um. Sie hatte wohl verstanden, dass jemand sie angesprochen hatte, den Sinn der Worte verstand sie jedoch nicht. „Mädchen“, sprach Merle weiter, „sag mir wer du bist. Sag mir deinen Namen!“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und Merle verstand, dass sie sie nicht verstand. „Hab keine Angst, Mädchen“, redete Merle weiter, und die Beruhigung galt mehr ihr als der anderen, und ging weiter auf sie zu. Dann stand sie direkt vor der anderen, schaute in ein Gesicht, das fremd war, aber der Ausdruck darauf war bestimmt der gleiche wie auf ihrem: ängstlich und verwirrt. Da lächelte Merle und die andere lächelte auch und dann reichten sie sich die Hände.
„Ich bin Merle“, sagte Merle.
„Ich bin Arlana!“ antwortete Arlana.
„Und ich bin Ihro, fremde Arlana, kannst du mich verstehen?“, fragte Ihro, der sich heimlich näher geschlichen hatte, neugierig trotz alledem.
„Ja!“ antwortet Merle, „ich habe dich verstanden, dann sag mir doch, wo bin ich hier?“
„Du bist in Cajenn“, beantwortete er ihre Frage. „Die Sonne geht bald auf!“ bemerkte Ihro.
„Stimmt!“, bestätigte Merle. „Wir sollten ins Dorf zurück bevor es hell wird. Sie betrachtete Arlana eine ganze Weile schweigend von oben bis unten. „Du kommst mit uns. Du musst uns helfen!“ Und so war es entschieden und zu dritt schlichen sie im Dorf bis zur Hütte im Garten.

Und nochmal erzählte Ihro die Geschichte von der kleinen schwarzen Kröte, die zu einer großen bunten Kröte geworden war und Arlana erzählte von der alten kartenspielenden Kröte.
„Ich glaube“, beendete Arlana ihren Teil der Geschichte, „dass eure kleine schwarze Kröte diejenige ist, die vor mir bei der alten Kröte war. Wir sind beide aus demselben Loch geschlüpft.“
„Und was nützt uns das Wissen?“, fragte Merle. „Du bist denselben Weg gekommen wie die Kröte, bist aber groß und nur dein Haar ist schwarz. Bedeutet das, dass du uns von der Kröte befreien kannst?“
„Keine Ahnung!“, antwortete Arlana und gähnte, wie gerne hätte sie sich zusammengerollt und wäre eingeschlafen. Aber Merle schaute sie so an, dass sie sich entschied, lieber die Augen offen zu halten.
„Du wirst uns helfen, das kann gar nicht anders sein!“, beharrte Merle, „sonst wärst du nicht denselben Weg gekommen.“ Arlana zuckte nur mit den Schultern. „Wir stecken uns jetzt Wattebäusche mit Heilöl in die Ohren und dann gehen wir zu dieser Krötenkreatur!“, bestimmte Merle. „Ich will nun mit eigenen Augen sehen, was da für ein Wesen im Keller des Rathauses sitzt.“ Ihro blickte sie ängstlich an. „Und du kommst auch mit! Wir alle werden der Gefahr ins Auge sehen und dann wirst du, Arlana, deine Zauberkarten einsetzen, so wie du das bei der anderen Kröte auch gemacht hast.“
„Das funktioniert nie“, widersprachen Ihro und Arlana gleichzeitig.
„Es wird funktionieren!“, sagte Merle mit mehr Zuversicht als sie empfand. „Es hat schon einmal geklappt und das wird es wieder. Das was die Kröte hier angerichtet hat, ist das reinste Chaos und Arlana hat eine Zauberkarte, die das Chaos beseitigen kann, das hat sie selbst gesagt!“ Arlana nickte nur stumm und stand ebenfalls auf und so ging es los.

Die Königin

Leise schlichen sie die Treppen hinunter, hin zu Orans Studiertisch. Die bunte Riesenkröte bemerkte sie nicht, was vielleicht daran lag, dass sie den Gesang der Kröte nicht hören konnten. Arlana setzte sich auf einen Stuhl und nahm ihre drei Karten in die Hand. Verzagt schaute von Merle zu Ihro, die ihr beide aufmunternd zunickten, und sich rechts und links von ihr aufstellten.
„Also gut dann“, begann Arlana und holte tief Luft, dann rief sie laut, so wie sie es in der Höhle der alten Kröte auch getan hatte. „Ich aktiviere Time Wizzard und mache damit alles andere unwirksam!“ und legte die Karte auf den Tisch. „Dann lege ich Chaosmagie zu unserer Verteidigung, dann fusioniere ich Chaosmagie mit Time Wizzard, und dadurch wird alles beendet. Und zum Schluss lege ich Diamant und bringe damit Klarheit ins Dunkel und Ordnung ins Chaos.“

Die Kröte schwang den Kopf nach hinten, was grotesk aussah, weil sie ihn nicht drehte, sondern rückwärts umklappte, mit dem Maul nach oben und den Augen nach unten zu. Kreischend verkrochen sich die Drei unter dem Tisch. Dann klappte die Kröte den Kopf wieder nach vorne. Dann hörten die Drei auf zu Kreischen. Dann hörte die Zeit auf, sich zu bewegen. Und in genau dieser einen Sekunde der Unendlichkeit hörte ein böser Zauber auf zu wirken. Um die Kröte herum flimmerte die Luft, erst langsam, dann immer schneller und als das Flimmern aufhörte und die Zeit wieder mit ihren Lauf begann, war die Kröte verschwunden und in der Mitte des Terrariums stand eine nackte Frau, am ganzen Körper mit bunten Farbflecken bedeckt.
„Also von hier ist die auch nicht, die muss irgendwo aus deiner Nähe sein, bis auf die Farbe sieht sie dir recht ähnlich“, kombinierte Merle.
„Das ist die Königin aus meinem Traum!“, rief Arlana, sie hatte sie auch ohne Kleid und Krone erkannt.
„Eine Königin?“, fragte Merle etwas dümmlich, aber das wäre jedem so gegangen, vor dessen Auge sich eine Riesenkröte in eine farbverschmierte nackte Frau verwandelt hätte. „Wie eine Königin sieht die aber nicht aus! Und ein Bad hätte sie dringend nötig!“

Der Königin war egal, ob jemand sie für eine Königin hielt oder nicht, sie wollte nur raus aus diesem Loch und so sprang sie geschwind aus dem Terrarium heraus, was einfach war, denn noch steckte ein wenig Krötenkraft in ihren Gliedern. Dann schritt sie, ohne irgendjemand zu beachten, die Treppe hinauf.

„Los hinterher“, rief Merle, die sich zuerst wieder besann, „wir dürfen sie nicht entkommen lassen. Wenn sie die Kröte war, muss sie uns Freude und Farben wiedergeben, vorher geht die nirgendwohin.“ Er rannte los wie der Blitz und packte sie am Arm und gemeinsam gingen sie nach oben. Merle führte die Königin zu einer Badestelle am Fluss, tauchte sie unter und wusch ihr die Farbe vom Leib und von den Haaren. Und dann geschah das Wunder: Je mehr Farbe ins Wasser gelangte, umso bunter wurden die Dalljyen auf den Feldern.

„Es tut mir so leid“, sprach die Königin, die nun wieder völlig sie selbst war. „Ich bedaure mein Tun zutiefst, auch als Kröte verwandelt, hätte ich euch das alles niemals antun dürfen“, sagte sie und machte eine ausholende Handbewegung. „Ich bin keine Diebin, ganz gewiss nicht. Wenn ich könnte, ich würde alles, was ich geraubt habe, tausendfach zurückgeben!“
„Das hast du doch schon“, sagte Merle und deute auf die Dalljyen-Felder, „schau nur die Blüten sind wieder bunt geworden. Damit können wir Stoffe neu einfärben und Häuser neu anmalen.“
Die Königin schaute in die Runde, sah die bunten Blumen blühen und lächelte und weinte vor Glück. Doch aus ihren Augen flossen keine Tränen, sondern kleine Herzen, das war die Lebensfreude der anderen. Gemeinsam sammelten sie die vielen Herzen ein und verteilten sie im Dorf. Jeder durfte sich eines aussuchen und jeder fand dasjenige, das zu ihm gehörte.

Noch am selben Abend wurde ein Fest gefeiert, denn alle hatten viel Nachzuholen. Es war ein wirklich ausgelassenes Fest und die Leute lachten und tanzten und erzählten und sangen ohne Unterlass. Alle amüsierten sich prächtig, einzig Arlana und die Königin saßen abseits und schauten wehmütig zu, sie gehörten einfach nicht dazu.
„Ich möchte so gerne wieder nach Hause“, sagte Arlana und seufzte schwer, „aber wie soll das bloß gehen?“
„Du trägst alles bei dir, was benötigt wird, um nach Hause zu finden“, erwiderte die Königin, die nur auf diese Frage gewartet hatte, „Ich bin nicht machtlos, und mit den Dingen, die du in den Taschen hast, werden wir beide den Heimweg finden!“
Arlana schaute ungläubig und breitete den Inhalt ihrer Taschen auf dem Tisch aus. Da waren die 5 Spielkarten und ein benutztes Taschentuch. Nicht gerade viel, dachte Arlana bekümmert.
Die Königin nahm Sticcor Feuervogel in die Hand, blies sanft darauf und warf sie in die Luft. Die Karte wirbelte umher, immer schneller und schneller, bis sich in der Mitte ein roter Kreis entfaltete aus welchem Sticcor Feuervogel hervortrat, ganz groß und lebendig.
„Ich stehe zu Diensten, oh Königin“, sagte Sticcor Feuervogel und verbeugte sich vor der Königin. „Steigt auf meinen Rücken, ich bringe Euch fort, zurück an den Ort, von dem ihr einst gekommen seid. Doch Eile tut Not, denn mit dem Lösen des Zaubers schwindet die Verbindung. Nicht mehr lange und es führt kein Weg mehr zurück.“ Die Königin nickte königlich und kletterte auf seinen Rücken.
„Und was wird aus mir?“, schrie Arlana empört. „Soll ich vielleicht hierbleiben? Das kannst du nicht tun! Schließlich habe ich dir den Vogel gebracht! Und ja: ICH! HABE! DICH! ERLÖST!“
„Es tut mir leid mein Kind, Sticcor Feuervogel ist für mich bestimmt. Deine Karten in diesem Fall sind andere“, erklärte die Königin. „Wenn er dich auf den Rücken nähme, wäre dies dein Tod.“ Arlana stampfte mit dem Fuß, sie war so wütend, so enttäuscht, dass sie kaum zuhören konnte. „Nimm das Rabenmädchen, es wird dich tragen und nimm Diamant, er wird dir leuchten, denn der Weg ist weit und es ist dunkel dort draußen und kalt. Nimm dieses Haar von mir und gib es dem König! Und beeil dich, auch deine Zeit ist knapp.“ Mit einem mächtigen Satz sprang Sticcor Feuervogel in die Luft, schlug dreimal mit den Flügeln und war verschwunden.

Arlana sah ihnen tränenblind hinterher, bis ihr kalt wurde. Da erst nahm sie ihre Umgebung wieder war, die seltsam verschwommen wirkte. Schnell steckte sie Chaosmagie und Time Wizzard in die Tasche und knöpfte ihren Mantel zu, der ein Geschenk von Merle war. Das Haar der Königin wickelte sie in das Taschentuch. Dann umklammerte sie Rabenmädchen und Diamant, die mit einem Mal ganz warm wurden.
Wie sie so stand und darauf wartete, dass etwas geschah, sah sie Merle und Ihro, weit weg und kaum zu erkennen, die riefen und winkten und dann waren sie ganz verschwunden und es wurde dunkel. Wie von Ferne hörte sie ein Lied, das sie einhüllte und sanft umfasste, innerlich und äußerlich und es war so seltsam, dass sie davon erwachte, aber noch nicht ganz, ein Teil von ihr verweilte noch an einem anderen Ort. Da hörte sie Joeys Lachen und sie erwachte ganz.

Arlana rieb sich verschlafen die Augen und wusste nicht so recht, wo sie war. Warum hatte sie auf dem Boden geschlafen? Das tat sie doch sonst auch nie. Ihr Blick auf ein großes Buch, das aufgeschlagen neben ihr auf dem Boden lag. Und ja, jetzt erinnerte sie sich wieder, darin hatte sie geblättert, bevor sie eingeschlafen war. Und ja, jetzt wusste sie auch wieder wo sie war: in einem verwunschenen Turm und das Buch hatte nur leere Seiten gehabt!

„Joey!“, rief sie „Schnell komm! Das musst du dir ansehen!“ Alle Seiten des Buches waren beschrieben, es gab sogar Zeichnungen von Ihro und Merle und von einigen Kröten. Auch ein blaues Ei gab es, das hatte Arme und Beine, und viele winzige Drachen und noch vieles, vieles mehr. Die ganze Geschichte, so wie sie sie erlebt hatten, stand hier aufgeschrieben, ihre eigene und die ihres Bruders. Joey!“, rief sie nochmal. „Haben wir nur geträumt, wovon wir gelesen haben oder hat unser Traum erst die Seiten gefüllt?“
„Das war kein Traum!“, sagte Joey. „Ganz und gar nicht, schau nur, was für ein schönes Schwert ich habe!“ Joey hob sein Schwert in die Höhe und fuhr schwungvoll durch die Luft. „Und du Arlana, schau nur, was für einen schönen Mantel du hast!“
Da griff Arlana nach dem Mantel, den sie beim Erwachen für eine Decke gehalten hatte und lächelte. Und sie lächelte noch mehr, als sie in ihre Tasche griff: Karten und Taschentuch, alles war noch da.

Der König

Gemeinsam schlugen sie das Buch zu und stellten es an seinen Platz im Regal. Dann ließen sie Rätsel und Geheimnisse zurück, liefen die Treppe hinab und dann ganz schnell quer durch den Wald und hin zum Festplatz, der gut zu hören war, so laut war das Geschrei dort. Kurz blieben sie am Rand stehen, und dachten sich aus, was sie sagen wollten auf die Frage, wo sie so lange gewesen wären. Aber es fragte niemand, denn niemand hatte sie vermisst. Joey und Arlana sahen sich an. Wenn sie bisher nicht vermisst worden waren, dann würde das auch nachher nicht so sein, das hatten sie so im Gefühl. Und sie hatten auch so im Gefühl, dass noch etwas zu erledigen wäre, und zwar sofort, noch bevor diese eine Nacht zu Ende ginge.

Sie schwangen sich auf die Rücken von Orangina und Cajenn, beides nun wirklich keine Reitpferde, aber dieses eine Mal wuchsen sie über sich hinaus und trugen sie binnen eines Augenblicks von der Festwiese zurück ins Dorf. Kein Mensch begegnete ihnen als sie zum Schlossberg hochritten. Obwohl es schon wieder hell wurde am Horizont, lag das alte verfallene Schloss noch im Schatten der Dunkelheit.
Hand in Hand betraten Arlana und Joey die große Freitreppe, die an manchen Stellen zerbrochene Stufen hatte. Die Treppe führte zum Schlossportal, das wussten sie von früheren Erkundungen. Das Portal war so von Efeu zugewuchert, dass kein Durchkommen war, obwohl beide Torflügel offen standen. So gingen sie suchend weiter, bis sie eine Lücke im Dickicht fanden, durch die sie sich zwängten, dahinter war ein zerbrochenes Fenster, durch das sie kletterten. Drinnen hätte es stockfinster sein müssen, aber aus einem unbekannten Grund war es hell genug, dass sie einiges sehen konnten, auf dessen Anblick sie gerne verzichtet hätten:
Dicke Schwaden verstaubter Spinnweben, Fledermäuse, die von der Decke herabhingen, fette Spinnen, die die Wände hochflitzen und so allerlei krötenähnliches Getier. Schließlich gelangten sie in einen großen Saal. Hier sah es aus, als hätte ein Erdbeben und ein Feuer gleichzeitig gewütet.
„Was tun wir hier eigentlich?“, fragte Arlana leise, „suchen wir womöglich eine Königin? Hier? Drin?“ Ihr war kalt und allmählich wurde sie müde und eigentlich hatte jetzt genug von Abenteuern.
„Einen König suchen wir auch, nicht wahr?“, flüsterte Joey zurück, „du erinnerst dich: ein König und eine Königin und zwei Schlüssel. Die Schlüssel haben wir benutzt, jetzt müssen wir noch das Königspaar finden.“
„Genau!“, antwortete Arlana, ungeduldig aber immer noch leise, „und wenn wir die Königin gefunden haben und den König, dann können wir endlich ins Bett und wirklich schlafen.“
„Aua!“, rief Joey lauter als beabsichtigt, denn er hatte sich den Kopf gestoßen. „Arlana, hol‘ Diamant heraus, ich glaube, das könnte jetzt hilfreich sein. Ich schätze, wir haben den König gefunden! Zumindest sieht er aus wie der aus unserem Traum, nur völlig versteinert“, sagte Joey als das Strahlen von Diamant eine Statue aus der Dunkelheit holte.
„Ist er es, oder ist er es nicht?“, flüsterte Arlana. „Ich denke, hier könnte sich der Zauberstab des Sagubeh als hilfreich erweisen.“ Joey nickte gewichtig, nahm den Stab aus seiner Hosentasche und berührte damit die Stirn des steinernen Königs, was nicht so einfach war, denn der König war groß und er musste sich recken und auf die Zehen stellen, aber es schien ihm die richtige Stelle zu sein. Es passierte nichts.
„Du musst etwas sagen!“, flüsterte Arlana, „so was in der Art von ‚Zauber, Zauber geh hinfort, von hier an einen anderen Ort‘.“
„Verwandle diesen Steinblock da“, fuhr Joey fort, „in jenen Mensch, der er mal war!“
Erst passierte nichts, doch dann ertönte ein saugendes Geräusch und, als wäre es Staub, wurde der Stein von oben nach unten in die Spitze des Zauberstabes hineingesogen. Der Zauberstab wurde davon ganz schwer. Stück für Stück wurde der König wieder zu einem Menschen aus Fleisch und Blut. Und dann war es vollbracht. Der König war wieder ganz und gar zurückverwandelt. Eine ganze Weile tat er nichts anderes als husten und niesen und dann hüpfte er auf und ab und schüttelte sich kräftig, denn sämtliche Glieder waren ihm eingeschlafen in der langen Zeit.
Arlana und Joey warteten ein wenig abseits, bis der König fertig war mit Husten und Schütteln, dann traten sie herbei und begrüßten ihn.

„Habt Dank, für alles, was ihr für mich getan habt, ich danke euch wirklich sehr“, sagte der König mit Tränen in den Augen und umfasst erst Arlanas und dann Joeys Hände. „Wenn ich nur etwas hätte, was der Königin gehört, dann könnte sie vielleicht zurückfinden zu mir. Hier ist alles verfallen, hier gibt es nichts mehr, nur Staub und Asche!“ Er kniete nieder und hob die Karte auf, die er hatte fallen lassen, als die Versteinerung von ihm abfiel. „Verfluchter böser Drache, der du so viel Leid über das Land gebracht hast. Wenn ich dich erwische bist du tot!“
„Entschuldigung, Herr König“, unterbrach ihn Arlana. „Ich habe gute Nachrichten, die Königin ist keine Kröte mehr, denn ich ...“, bei diesen Worten zeigte sie mit dem Zeigefinger ganz stolz auf sich selbst, „... konnte sie befreien. Sie hat mir aufgetragen, dir ein Haar zu geben, ich denke, es könnte sich als hilfreich erweisen.“ Sie hielt dem König ihr Taschentuch hin, öffnete es und da lag das Haar der Königin. Er nahm es vorsichtig an sich und starrte es an, gerade so, als könne er allein dadurch die Königin zurückzubringen.
So wird das nichts, dachten Joey und Arlana wie mit einem Gedanken und wie in einer Bewegung aktivierte Joey Helle Kraft und Arlana Diamant. Der König nickte und wickelte das Haar um beide Karten.
Ewig, so kam es ihnen vor, standen sie so da und warteten, traten unbehaglich von einem Bein auf das andere und sahen sich immer wieder um. Die Hände, in denen sie die Karten hielten, wurden ihnen schwer, doch der König nickte ihnen aufmunternd zu.
Arlana hörte es zuerst, und dann auch Joey, ein Brausen wie von einem starken Wind im Tannenwald, aber nur ganz kurz, dann eine Melodie, die Arlana zu kennen glaubte. Und dann gab es einen Wirbel, wohl einen Meter über dem Fußboden, aus dem heraus sich ein roter Kreis entfaltete, aus welchem Sticcor Feuervogel hervortrat, und er trug die Königin auf seinem Rücken. Sie hatte noch das Kleid an, das Merle ihr im fernen Cajenn geschenkt hatte. Sie glitt von Sticcor Feuervogels Rücken und mit Tränen in den Augen ging sie dem König entgegen. Sticcor Feuervogel indes verblasste und Arlana hörte es rascheln in ihrer Tasche und wie sie hineingriff, hatte sie wieder 5 Karten.

Verlegen drehten Joey und Arlana sich um, als der König seine Königin fest in den Arm nahm und innig küsste, denn es waren viele hundert Jahre vergangen, ohne dass sie sich gesehen hatten, und es wurde ein sehr, sehr langer Kuss.
Und wir beide gehen jetzt nach Hause, dachten Joey und Arlana gleichzeitig, unsre Arbeit ist nun getan. Um den Rest, wie Drachentöten oder Schlossputzen, konnten sich die beiden wohl selber kümmern.

Drachentöter

„Der junge Herr muss noch bleiben!“, hielt ihn der König zurück. „Wenn er ein Ritter werden will, so muss er zuvor einen Drachen töten, und da böte sich jetzt eine Gelegenheit.“ Das ließ Joey sich nicht zweimal sagen, drehte sich auf dem Absatz um, ließ Arlana einfach stehen. „Vor dem Tor zur Schatzkammer liegt ein der Drache und schläft, vermutlich ist er ist schwach geworden mit den Jahren, doch bestimmt immer noch tückisch. Nimm dein Schwert und tue damit, was getan werden muss!“ Der König sah Joey ernst an, Joey sah genauso ernst zurück und nahm dann den Weg, der direkt zur Schatzkammer führte. Arlana rannte schnell hinterher. Ein wenig mulmig war Joey zumute, genau genommen sogar sehr. Obwohl er gerne ein echter Ritter werden wollte, wollte er lieber keinen echten Drachen töten. „Ich bin bei dir!“, flüsterte Arlana ihm ins Ohr, so als hätte sie verstanden, was er dachte. „Ich komme mit, gemeinsam schaffen wir das!“
Es waren nur ein paar Schritte, dann waren sie bei der Schatzkammer angekommen. Und wie der König angekündigt hatte, lag vor der Tür ein schlafender Drache, dessen Haut in vielen Falten um ihn herumlag, so als wäre er geschrumpft.
„Der ist so gut wie verhungert“, flüsterte Joey und zückte tapfer sein Schwert. „Doch das da ist kein Gegner für einen Ritter, ich bringe es nicht übers Herz, ihn einfach so zu erstechen, er sieht so hilflos aus! Was soll ich tun? Ich will doch so gerne ein Ritter werden!“
„Ich könnte mich von ihm fressen lassen“, sagte Arlana, „denn Drachen mögen Prinzessinnen sehr gerne, ich zwar keine Prinzessin, aber ich habe eine Königin gerettet, das zählt bestimmt auch. Und dann wird er wieder groß und stark und du kannst gegen ihn kämpfen und ihn besiegen.
„Was ist das denn für ein Quatsch!“, empörte sich Joey. „Und sei nicht so laut, nicht dass er aufwacht.“
Arlana lächelte, denn es war nur ein Scherz gewesen, aber sie hätte es getan, wenn es geholfen hätte. „Nein, nein, alles gut“, sagte sie, „ich lass mich nicht fressen und du musst ihn nicht töten. Du kannst ihn verzaubern, mit dem Rest des Zaubers aus dem Zauberstab.“
„Oh Arlana! Das ist die Idee!“, sagte Joe. „Viel ist nicht mehr übrig, aber für etwas Kleines könnte es noch reichen.“ Arlana dachte sogleich an eine Kröte, das hätte der Drache wahrlich verdient! Doch Joey hatte eine andere Idee, denn ihm war gerade etwas eingefallen, wovon er einmal gelesen hatte. So kniete er sich nieder, nahm den Zauberstab in die eine Hand und die andere legte er auf den Drachenkopf. „Zauberkraft die Wunder schafft“, flüsterte er, so wie er es beim König getan hatte, „gib dem Drachen seine wahre Gestalt.“ Erst geschah nichts und die Zwillinge dachten schon, es hätte nicht funktioniert und Joey müsste ihn doch noch töten. Aber dann ging ein Zucken durch den Drachenkörper. Erschrocken sprangen sie zurück. Ein Wabern von Haut und Nebel umfloss seine Gestalt, es knirschte und raschelte, als wenn ein Baum gefällt würde. Und dann verzog sich der Nebel und vor den beiden stand, eine Zwergin, sehr hübsch anzusehen, in einem Kleid aus Drachenhaut.

„Was habt ihr getan, ihr unseligen Menschen!“, flüsterte die Zwergin und stampfte wütend mit den Füßen und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf Joeys Oberschenkel. Bei aller Wut sprach sie ganz leise und mit sanfter Stimme, denn brüllen konnte sie nun nicht mehr. „Was habt ihr mir angetan?“ Sie sprang hoch in die Luft und trat mit ihren kleinen Füßen gegen Arlanas Bauch.
„So aber nicht, meine Kleine!“, schimpfte Arlana. „Ich aktiviere Time Wizzard und mache damit deine Wut unwirksam!“ Und tatsächlich, die Zwergin wurde ruhiger. „Hehe!“, lachte Arlana, „allmählich habe ich den Dreh raus und deswegen aktiviere ich noch Chaosmagie und das Rabenmädchen, beide zusammen machen ein Loch in der Zeit, durch das du direkt nach Hause hüpfen kannst!“
Die letzte Silbe verklang, die Luft kräuselte sich ein wenig und dann war die Zwergin verschwunden. Sie blieben noch einen Moment, sicher ist sicher, dachten sie, und Joey hielt sein Schwert gezückt. Erst dann gingen sie zurück

Im Schloss selbst hatte sich einiges getan in der Zwischenzeit. Nun, einiges war vielleicht etwas untertrieben. Der Thronsaal erstrahlte in voller Pracht und alles war frisch und sauber und heil. Sämtliches Gestrüpp war verschwunden und auch die Staubschwaden. Die Fledermäuse und Spinnentiere waren in den Wald geflüchtet. Nämlich in dem Moment, wo sich der Drache in einen Zwerg verwandelt hatte, war das Schloss erwacht, wie aus tiefem Traum und hatte sich selbst erneuert. Nur ein wenig Staub hing noch in der Luft, das war alles, was an die unselige Zeit davor erinnerte.

Der König und seine Königin waren schon vorausgegangen, standen oben an der Freitreppe in der Sonne, die Hände erhobenen. Arlana und Joey stellten sich neben sie und betrachteten staunend das zweite Wunder dieses Morgens. Es war schlichtweg unbeschreiblich, was geschah. Im Nachhinein würde Arlana ihren Kindern erzählen, dass es war, als würde die Landschaft allüberall vom Staub befreit, jeder noch so kleine Halm und jeder noch so hohe Baum. Joey würde seinen Enkeln erzählen wie das war, als das Land aufatmete und größer und breiter wurde und um so viel schöner. Wie das Schloss, so hatte auch das Land im Schlaf gelegen, nur halb lebendig und Joey und Arlana waren Zeugen seiner Heilung.

Die Menschen, die am späten Vormittag von der Sommerwiese zurückkehrten, hatten noch kein Auge für das grünere Grün der Wiesen und all die anderen Dinge, dazu waren sie einfach zu müde vom vielen Feiern. Wohl aber bemerkten sie das Schloss, das grandios und prächtig in der Sonne erstrahlte und nichts, aber auch gar nichts mehr, erinnerte an die verfallene Ruine, die es vor kurzem noch gewesen war. Jubel breitete sich aus von Kehle zu Kehle, als die Menge das Königspaar entdeckte, das sich verneigte vor dem Volk, ganz nach alter Sitte.

„Bürger des Landes Duun-Cadoh und der Stadt Duun!“, sprach nun der König und die Menge wurde still. „Ein Drache hat vor sehr langer Zeit viel Böses über uns gebracht und über euch und über das Land und es lag nicht in unserer Macht, euch zu beschützen oder das Unheil abzuwenden.“
„Andere haben das an unserer Statt getan“, fuhr die Königin fort. „Tapfer und kühn haben sie sich der Aufgabe gestellt und alle Rätsel gelöst und alle Abenteuer überstanden. Sie haben uns von dem bösen Zauber befreit, der auf uns lag und auf dem Land. Der Mut dieser beiden hat uns allesamt gerettet.“ Die Königin machte eine ausholende Handbewegung. Joey und Arlana traten hervor neben das Königspaar und der Jubel wurde nur noch lauter. „Zum Dank ernennen wir Arlana zur Prinzessin des Landes und Joey zum Ritter, auf dass sie Vorbild sein sollen und Erinnerung an gute und an schlechte Tage. Und nun kommt alle herein und lasst uns dies frohe Ereignis gemeinsam feiern. Sie feierten und sangen und tanzten den ganzen Tag bis in die späte Nacht und erst am nächsten Morgen fand das Fest ein Ende. Die Freude in den Herzen der Menschen blieb aber erhalten für immer.

Heimkehr

Nachdem die Drachin Devon Malldragora fort war, hatte Alfred Albert, so wie sie ihm aufgetragen hatte, den Drachenhort gründlich aufgeräumt und geputzt. Der Schatz war poliert und sortiert und ordentlich aufgestapelt an der rückwärtigen Wand. Jeder Stein im Drachenhort war vom Staub befreit und das alles schon mehrmals und noch immer kam sie nicht zurück. Vor ein paar Tagen hatte er zum ersten Mal am frühen Morgen sein Bündel gepackt, um wieder zurückzukehren zu seinem Volk. Am Mittag hatte er wieder alles ausgepackt und die Reise auf den nächsten Tag verschoben. Am Abend saß er dann, wie jeden Abend seit sie fortgegangen war, in der Abenddämmerung vor dem Drachenhort und betrachtete den Sonnenuntergang. Denn wenn sie zurückkäme, das wusste er genau, dann zu dieser Tageszeit. So ging das schon seit vielen Tagen und er war schon ein wenig wirr geworden davon im Kopf. Doch dann schaute er den Drachenfuß an und wusste, dass er das Richtige tat. Devon Malldragora würde zurückkommen.

Die Sonne war gerade hinterm Horizont verschwunden, als etwas vom Himmel plumpste, direkt vor Alfred Alberts Füße. Vor Schreck sprang er mit einem Salto rückwärts hinter die nächste Felszacke. Vorsichtig spähte er um die Ecke und sprang jubelnd wieder hervor als er erkannte, was da vom Himmel gefallen war.
„Heißa hopsa Zwergenglück!“, rief er laut und jauchzte vor Freude. „Devon Malldragora ist heimgekehrt!“ Er hätte sie immer erkannt, egal in welcher Gestalt. Er ließ jede Vorsicht sein, die er früher im Umgang mit ihr an den Tag gelegt hatte und nahm sie ganz fest in den Arm. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist, so froh!“
„Ach Alfred Albert, jetzt bin ich so ein kümmerlicher Zwerg wie du“, jammerte Devon Malldragora, „all meine Drachenkräfte sind dahin und wenn ich mich anschaue, könnte ich schreien vor Wut.“
„Ach meine liebste Devon Malldragora“, sagte Alfred Albert und grinste breit bis über beide Ohren, „ob mit oder ohne Kräfte, ob als Drache, als Marienkäfer oder als Zwerg, so liebe ich dich doch aus ganzem Herzen, das habe ich immer getan und werde es immer tun!“
Da lächelte Devon Maldragora und reichte Alfred Albert ihre Hand.

Ende







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