Nachts im Palast

Ilva erwacht. Es ist unerträglich heiß, alles schweigt still, jeder Ton ist ausgelöscht von der alles überlagernden Hitze, kein Vogel zwitschert, kein Blatt raschelt, kein Schritt geht über Kies. Die heiße Nacht schweigt und duftet süß, weckt Sehnsüchte nach Tausendundeinernacht. Unerträgliche Stille hängt bleischwer zwischen den Bäumen. Ilva hält sich die Ohren zu, will nicht hören. Wolkenlos spannt sich ein rotgoldgeflammter Himmel über ihr. Sie hält sich die Augen zu, will nicht sehen.

Ilva erkennt die Bruchstücke vergangener Nächte, Nächten wie dieser, doch so bedeutungslos ist diese Erkenntnis, so ungewiss wie die Wahrheit, so unerklärlich wie Regentropfen im Sonnenlicht. Unbegreifliches geschieht, doch Ilva hat keine Ahnung von den Schmerzen dieser Welt. Hilflos weicht sie vor der Ewigkeit zurück.

Ilva sucht Schutz und Erfrischung in den kühlen Hallen des Palastes. Es ist still dort, anders doch als draußen. Nicht starr ist die Stille hier, sondern beschwingt, denn gedämpfte Geräusche im Hintergrund zeugen von Leben. Doch sie bleibt allein, immer allein, während ihrer Wanderung durch die großen Säle und langen Gänge. Sie tritt hinaus in den Palastgarten und lauscht aufmerksam. Sie hört nichts, fühlt nichts. Die Hitze dort ist schwer und unerträglich, obwohl es doch längst dunkel ist. Der Garten ist verwildert, undruchdringlich wie ein Dschungel, undurchdringlich wie der sternenlose Nachthimmel. Sie will will nichts wissen von den Schmerzen dieser Welt. Teilnahmslos tickt die Uhr. Unerbittlich vergeht die Zeit, zerrinnt ihr zwischen den Fingern.

Ilva kehrt zurück in die kühle Frische des Palastes, geht weiter und weiter, immer Richtung Osten, dem neuen Tag entgegen. Sie läuft vorbei an zahllosen Türen, manche geschlossen, manche geöffnet, manche aufgebrochen, dahinter leere, dunkle Höhlen, verlassen und angehaucht vom Tod. Sie sucht, weiß aber nicht, wonach. Sie will nichts hören, will nichts sehen. Mittlerweile hat sich sich vom Zentrum entfernt, gelangt in entlegene Randbereiche. Seit Stunden ist sie unterwegs, immer allein. Sie zittert, Panik wallt auf. Die Wände bestehen nur noch aus grob behauenem Stein, Bodenplatten sind zerbrochen, längst eingestürzte Mauern versperrenen Weg, sie kommt kaum noch voran. Sie fühlt Angst aufsteigen, rein und unverfälscht und keine Zeit zum Atmen, und die Nacht so lang. Tränen rinnen aus ihren Augen, sie weint, tief unglücklich, tief verzweifelt. Sie erwacht durch ihr eigenes Schluchzen, ist durchdrungen von tiefer Traurigkeit, und doch fühlt sie sich befreit und bereinigt gleichermaßen.

Ilva gelangt in einen weiteren Palastgarten. Blumen blühen in verschwenderischer Pracht, ein milder Wind streift sacht durch ihre Blätter. Sanfte Gefühle von Ruhe und Gelassenheit strömen durch Ilvas Adern, ein stiller Friede erheitert ihre Seele und breitet sich aus. Weil alle Wege im Kreis führen, so die Erkenntnis, bleibt sie endlich stehen. Sie lässt sich umfluten von goldenem Sternennebel und sieht das glänzende Universum allüberall. Sie hört Lieder, vielfach gesungen und fast vergessen. Zwischen den Büschen stehen alte Erinnerungen, erkennen sie und winken freundlich. Zu ihren Füßen schwimmen Eidechsen im Schnee.

Ilva öffnet die Fenster. Es hat geregnet. Die Dächer glänzen, die Luft riecht frisch und sauber, es dämmert schon. Die Nacht ist vorbei.

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